85 Jahre nach der Reichspogromnacht sind wir heute konfrontiert mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Vergangenheit, die sich zu Wort meldet, ihre Bilder in unsere Gegenwart sendet, und die durch unsere Erinnerungen am Leben gehalten werden soll. Diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie wird aufbewahrt in den Geschichten von Familien, von jüdischen und christlichen Gemeinden, in den Erinnerungen von Orten. Man begegnet ihr auf Schritt und Tritt, wenn wir mit offenen Augen durch unsere Städte gehen: vorbei an den Mahnmalen und Gedenkstätten, mit denen wir die Erinnerung an die Opfer deutscher Verbrechen wach halten.
Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, als jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen zerstört und ausgeplündert wurden, als die böse Hatz auf Jüdinnen und Juden begann, Tausende misshandelt, verhaftet und ermordet sowie Familien auseinandergerissen wurden, da gab es keinen Aufschrei im Land. Einzelne nur waren es, die sich trauten, ihre Stimme zu erheben, um das himmelschreiende Unrecht beim Namen zu nennen. Doch es waren zu wenige. Die meisten blieben stumm. Es mangelte an Klarheit und Entschiedenheit. Wir stehen davor voller Scham.
Zeit vergeht, Verantwortung nicht! Und Verantwortung braucht Erinnerung, um nicht zu einem allgemeinen Postulat zu verschwimmen. Verantwortung braucht den Blick auf das, was war – hier, in unseren Städten und Dörfern, in den Straßen, auf denen wir täglich gehen. Die Bosheit geschah nicht auf einem fernen Planeten, nicht in einer unbestimmten Fremde, nicht durch finstere Wesen. Die Bosheit, der Mord, der Bruch mit den Gesetzen der Zivilisation geschah durch Menschen wie Du und ich! Wir sind als Volk und als Kirche in einen ungeheuren Abgrund gestürzt. Dies zu erkennen und darauf zu verzichten, Rechtfertigungen zu suchen und Entlastungsstrategien – vielleicht bedarf es dazu einer größeren Hoffnung, als der Mensch sie von sich aus haben könnte.
Die schrecklichen Ereignisse von damals, sie lehren uns heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für den menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, gibt es auch keinen Respekt vor der gleichen Würde aller Menschen. Unsere Erinnerung an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren liefe ins Leere, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir heute Jüdinnen und Juden gegenüber schulden. Denn noch immer sind Antijudaismus und Antisemitismus nicht überwunden.
Jüngster Schreckensbeleg: der 7. Oktober 2023. Mitglieder der Terrororganisation Hamas greifen Israel an, dessen Existenzrecht sie radikal verneinen. Menschen, die in der Wüste Musik hören, die tanzen und den Sonnenuntergang erleben wollten, Frauen, Kinder, Männer im Kibbuz, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren: zu Hunderten haben die Terroristen sie und andere ermordet, misshandelt, verschleppt. An diesem Tag wurde das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust begangen! Gleichzeitig benutzt die Hamas die palästinensischen Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Die Situation im Heiligen Land, sie ist zum Verzweifeln.
Und was geschieht in unserem Land? Antijudaismus und Antisemitismus flammen erneut auf: Da jubeln Menschen auf Demonstrationen und beklatschen den Hamas-Terror gegen Israel, da werden jüdische Wohnhäuser mit dem Davidstern markiert und Jüdinnen und Juden auf offener Straße gezielt angegriffen.
So mahnt uns die Erinnerung an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, jeder Form von Judenfeindschaft entschlossen entgegenzutreten, alles zu tun, was dem Frieden und der Versöhnung zwischen verfeindeten Gruppen und Ländern dient und sich aktiv einzusetzen für eine Gesellschaft in Freiheit und gegenseitiger Achtung, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst ist. Halten wir in diesen Tagen inne und hören wir auf das biblische Wort für das Heilige Land und alle Länder und Menschen dieser Erde:
„Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit für immer“ (Jesaja 32, 17).
CS/TN