Im Jahr 1985 fand in Berlin eine Generalversammlung des „Evangelischen Bundes“ statt. Wenn man heute den Berichtsband des damaligen Treffens liest, hat man eine in vielem so ganz andere Stadt vor sich, als sie sich heute darstellt. Dabei geht es nicht nur darum, dass damals Berlin noch eine geteilte Stadt war, sondern auch die religiöse Lage war völlig anders. In den Referaten wurde der evangelische Glaube formuliert im Gegenüber zu einer säkularen bzw. marxistischen Kultur. Der Islam wurde ein- oder zweimal ganz am Rande als neuartiges Phänomen in der Stadt erwähnt.
Heute ist Berlin eine Stadt, in der sich gerade auch die religiöse Lage in hohem Maße diversifiziert hat. Und das gilt besonders für Nord-Neukölln mit seinen Menschen aus 190 verschiedenen Nationen, die in diesem Stadtquartier dicht zusammenleben.
Neukölln, und hier wiederum vor allem der nördliche Teil, ist seit Jahrhunderten von Zuwanderung geprägt. Da ist zum einen das „Böhmische Dorf“, in dem bis heute eine gewisse Tradition protestantischer böhmischer Flüchtlinge lebendig ist.
Da sind andererseits in den vergangenen Jahrzehnten die vielen Zuwanderungen aus aller Welt in dieses traditionelle Arbeiterviertel Berlins. Von der Schriftstellerin Deborah Feldman stammt der Satz: „Berlin ist die Heimat der Heimatlosen“. Und das gilt für Nord-Neukölln besonders.
Hier haben sich viele religiöse Gemeinschaften angesiedelt. Daraus hat sich auch eine neue Durchlässigkeit entwickelt, in der religiöse Vorstellungen sich gegenseitig beeinflussen oder Menschen die Religion wechseln. So gibt es Konvertit*innen in den muslimischen Gemeinden, aber auch dicht beieinander zwei Gemeinden ehemaliger Muslime, die sich haben taufen lassen. Es gibt den Ausdruck, dass Neukölln ein „Labor“ sei, in dem neuen Formen des zukünftigen Zusammenlebens in einer vielfältigen Weltgesellschaft gesucht und eingeübt werden.
Im Laufe der letzten Monate war ich mit verschiedenen Gruppen wie Schulklassen aus der Schweiz und aus Dänemark, Religionslehrer/innen, Theologiestudierenden, diakonischen Krankenpflegeschüler/innen unterwegs zu religiösen Gemeinschaften in diesem Stadtviertel. Auf dem Programm stehen zum Beispiel der Hindu-Tempel in der Hasenheide, eine sunnitische Moschee, die bulgarisch-orthodoxe Kirche, aber auch die Genezareth-Kirche, mit deren Arbeit die Evangelische Kirche Berlins in den säkularen und multireligiösen Milieus Anschluss sucht.
An einem Nachmittag lassen sich zwei oder etwas ambitioniert drei Religionsgemeinschaften besuchen. Wir legen die Wege zu Fuß zurück und können so persönlich die Vielfalt, die sich in den Straßen des Stadtviertels entwickelt hat, wahrnehmen und erleben.
In den jeweiligen Gotteshäusern stellen Vertreter/innen dieser Gemeinschaften ihr Haus und ihre Religion vor. Dabei interpretieren sie ihre jeweilige Religion auf dem sozialen und weltanschaulichen Hintergrund Berlins.
Es kann zu intensiven Gesprächen kommen wie zum Beispiel über die Lage innerhalb der religiösen Milieus oder über Fragen des Umgangs mit Personen der jeweiligen Religion innerhalb der Krankenpflege.
Solche Führungen fördern das Vertrauen, das gegenseitige Verständnis und damit das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener religiöser Prägung.
Eine besondere Gelegenheit war, als der Neuköllner Bürgermeister und stv. EKD-Synodale Martin Hikel einer dänischen Gruppe über die Bemühungen der Politik berichtete, den Aufgaben in diesem speziellen Stadtteil gerecht zu werden. Dabei ist ihm als langjährigem Lehrer die Bildung von Kindern und Jugendlichen vorrangig wichtig.
Nach meiner Beobachtung verändern diese Begegnungen die Beteiligten. Es wird zum einen deutlich, wie unterschiedlich Religion sein kann und eben mehr ist als das, was wir in unserer jeweiligen Kindheit als Rede von Gott kennen gelernt haben. Zum anderen wird die Aufgabe sichtbar, unseren persönlichen Glauben zu formulieren im Kontext einer vielstimmigen Religiosität.
Für uns als evangelische Christinnen und Christen stellt sich die Aufgabe, wie wir unseren Glauben an das Erscheinen Gottes in Jesus Christus formulieren nicht nur in der religiösen Wüste der Säkularität, sondern auch im religiösen Dschungel einer bunten und facettenreichen Gesellschaft. Hier gilt es neu, evangelischen Glauben und evangelische Kirche zur Sprache zu bringen und zu bewähren.
Weiterführende Links:
crossroads-berlin.com
startbahn.berlin
MH