Lehrerinnen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland dürfen sehr wohl Kopftuch tragen. Das hat ein Beschluss vom 27. Januar 2015 des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts klargestellt. Sie urteilten: „Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung.“ Zugleich wenden sich die Obersten Richter gegen eine „Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen”. Die pauschale Schlussfolgerung, dass die Trägerin eines Kopftuchs ein Zeichen gegen Gleichberechtigung oder für eine Einschränkung der Freiheitsgrundrechte setze verbiete sich. Mit sechs gegen zwei Stimmen hat das Gericht verkündet: „Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist mit der Verfassung nicht vereinbar.“ Die Schulen haben aber auch zukünftig die Möglichkeit, wenn durch das Tragen eines Kopftuchs eine konkrete „Gefahr für den Schulfrieden“ vorliege, dieses zu untersagen.

Reaktionen auf diesen Urteilsspruch.

Die höchstrichterliche Entscheidung sei ein „richtiger Schritt”, befindet der Zentralrat der Muslime. Er würdige die „Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen und lässt sie als gleichberechtigte Staatsbürger am gesellschaftlichen Leben teilhaben”.

Auch die Deutsche Bischofskonferenz begrüßt das Urteil, da es ein „starkes Signal für die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit“ sei. Denn mit dieser Entscheidung wird natürlich auch das Tragen von Ordenskleidung durch Lehrkräfte geschützt.Für die Deutsche Bischofskonferenz hob ihr Sekretär, P. Hans Langendörfer SJ, hervor, Karlsruhe verstehe weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene Haltung: „Das Gericht bestätigt damit, Religion und religiöses Bekenntnis haben einen legitimen Platz im öffentlichen Raum.”

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat die Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich begrüßt, kündigte jedoch eine gründliche Prüfung an. Mit dem Urteil hätten die Karlsruher Richter klargemacht, dass Religion keine Privatsache sei, sondern Teil der Öffentlichkeit, sagte Bedford-Strohm. Er fügte hinzu, es müsse jedoch klarwerden, wie das Kopftuch zu bewerten sei: Stehe es tatsächlich für die Unterdrückung der Frau oder gehöre es zum Selbstbestimmungsrecht der Frau? Er kündigte an, dass sich die EKD sorgfältig mit dem Karlsruher Urteil befassen werde.

Im Internet dagegen beschweren sich viele, dass hier christliche Traditionen aufgegeben würden, in anderen Staaten hätten Christen eben lange nicht vergleichbare Rechte.

Und manche Bildungspolitiker befürchten, dass die Schulen mit der Einzelfallprüfung heillos überfordert sein werden und bereits die Debatte darüber den Schulfrieden brechen werden.

Doch genau das ist die Chance in diesem Urteil.

Wer über den Islam und seine politischen Ziele sprechen will, muss mit Menschen islamischen Glaubens sprechen. Das Kopftuch aus Schulen, Behörden und Betrieben zu verbannen, hilft überhaupt nicht weiter. Es kommt nicht darauf an, was auf dem Kopf getragen wird, sondern welche Überzeugung in den Köpfen vorherrscht. Das Kopftuch ist ein Stück Stoff, ganz gleich in welcher Farbstellung oder Wickeltechnik es um Frauenköpfe geschlungen ist.

Natürlich kann man sich, wie es die Karlsruherinnen und Karlsruher taten, auf den ästhetischen Standpunkt zurückziehen und im Kopftuch ein Accessoire sehen, das „auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist“. Und viele gläubige Musliminnen tragen das Kopftuch an allen Orten, an denen sie Fremden begegnen. Sie berufen sich dabei auf Koransuren wie 24:31 und 33:59. Aber andere muslimische Frauen widersprechen. Lale Akgün, von 2002 bis 2009 Abgeordnete im Deutschen Bundestag für die SPD, zum Beispiel erklärt, das Kopftuch sei „nie ein Symbol des normalen, gläubigen Menschen oder einer gläubigen Frau“ gewesen.

Gegen eine gnadenlose Kultur

Die Schauspielerin Sibel Kekilli hat zum Weltfrauentag 2015 in Schloss Bellevue eine Rede gehalten. Ihre Eltern stammen aus einem Bergdorf in der türkischen Provinz Kayseri. Sie liebe ihre Kultur, sagte Kekilli, aber „auf dem Weg zu meiner Freiheit habe ich sie zu einem sehr großen Teil verloren“. Die Kultur, in die sie hineingeboren wurde, könne gnadenlos sein. In einer emotionalen Rede, appellierte Kekilli an die muslimischen Ehemänner, Brüder und Väter, doch endlich tolerant gegenüber der Freiheit ihrer Frauen zu sein. Für ihren eigenen Weg zur Freiheit habe sie viel bezahlt. Kekili: „Er war lang, schmerzhaft und selbstzerstörend. Meinen eigenen Weg zu gehen, kostet mich noch immer sehr viel Mut und Kraft. Jeden Tag.“

Freiheitsrechte müssen immer neu eingefordert werden

Dieser Mut ist gefordert, von allen, in der politischen Debatte, im Alltag und auch in den Schulen. Ein Kopftuchverbot rettet nicht bürgerliche Freiheitsrechte. Und die Erlaubnis, es zu tragen, bedeutet nicht, dass egal ist, was die Trägerin denkt und lehrt. Sie müssen immer neu begründet und eingefordert werden. Kreuze an der Wand von Klassenzimmern oder Kopftücher von Lehrerinnen getragen, indoktrinieren nicht. Lebensentwürfe und Argumente dagegen schon. Drohungen und Gewalt erst recht. Auch aus evangelischer Perspektive kommen in dieser Frage die Menschenrechte in den Blick. Denn wie sagte Jesus am Beispiel des Sabbatgebotes: „Das Gesetz ist um der Menschen willen da.“ (Markus 2,27) Was dem Menschen schadet, weiß zuallererst ein Mensch, der leidet.

Ob ein Kopftuch getragen wird als vorweggenommene Unterwerfung angesichts drohender Sanktionierung oder aus einem individuellen Bedürfnis, sich abzugrenzen gegenüber einer als beliebig wahrgenommenen Gesellschaft oder einfach bloß so, weil man es eben so macht: das wird man nur ergründen, wenn man sich mit den Mädchen und Frauen unterhält. Und mit den Männern.

Die freiheitliche Gesellschaft ist nicht ohne Risiko

Wie heikel das sein kann, macht literarisch Michel Houellebecq deutlich in seinem neuen Roman „Unterwerfung“ (2015). Filmisch zeigt es das französisch-belgische Filmdrama „Heute trage ich Rock“ von Jean-Paul Lilienfeld (2008), mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle, die sich als Lehrerin den sexistischen Anwürfen ihrer muslimischen Schüler widersetzt und am Ende stirbt. Und die Wirklichkeit zeigt dies mit den zahllosen Angriffen auf Frauen und Mädchen jeden Tag neu.

Den Mut und die Kraft, von der Sibel Kekilli spricht, brauchen wir an all den Orten, wo die Freiheit des Glaubens, die Freiheit der Bildung, die Freiheit der Frauen in Abrede gestellt wird. Oder mit dem Evangelium gesprochen: „Da sprach Jesus zu ihnen: Ich frage euch: Was ziemt sich zu tun an den Sabbaten, Gutes oder Böses? Das Leben erhalten oder verderben?“ (Lukas 6,9)

Ksenija Auksutat