Als die evangelischen Christen in Deutschland 1883 an Martin Luthers 400. Geburtstag erinnerten, wurde die Idee zur Gründung eines Evangelischen Bundes neu belebt. Die Feiern zu diesem Lutherjubiläum waren der Anstoß zu all den Aktivitäten, die drei Jahre später zu einem erfolgreichen Abschluss geführt wurden. Am 5. Oktober 1886 wurde in Erfurt der „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“ gegründet. Zu dieser Zeit war der Protestantismus in Deutschland in viele kirchliche Parteien und theologische Richtungen gespalten. Was die Evangelischen vereint, blieb vielfach verborgen hinter kirchenpolitischen und theologischen Grabenkämpfen. Das allen Evangelischen Gemeinsame wieder sichtbar zu machen, war für die Gründer des Evangelischen Bundes das eigentliche Anliegen. Dabei boten sie im Stil der Zeit einen ausgeprägten nationalen Bezugsrahmen, der auch helfen sollte, die negativen Auswirkungen der territorialen Zersplitterung der evangelischen Kirche zu mildern. Die wichtigste Persönlichkeit aus diesem Kreis war der Professor für Praktische Theologie und Neues Testament an der Universität Halle-Wittenberg, Willibald Beyschlag (1823-1900). Von ihm gingen wesentliche inhaltliche Impulse und die überzeugendsten Ideen aus, während der erste Vorsitzende Wilko Levin Graf Wintzingerode-Bodenstein (1833-1907) maßgeblich zum Gelingen der organisatorischen Aufgabe beitrug. Der Jurist verfügte über Erfahrungen in Politik und Verwaltung. Er war Mitbegründer der Frei- konservativen Partei, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und kurzzeitig auch Mitglied des Deutschen Reichstags. Zur Zeit der Gründung des Evangelischen Bundes war er Landeshauptmann der Provinz Sachsen.

Präsenzliste der Gründungsversammlung am 5. Oktober 1886 in Erfurt.
aus: Zur Entstehungsgeschichte des Evangelischen Bundes. Persönliches und Urkundliches von Professor D. Willibald Beyschlag, Verlag des Evangelischen Bundes, Berlin 1926

Der protestantischen Zerrissenheit gegenüber zeigte sich der römische Katholizismus gestärkt, während sich der Kulturkampf dem Ende zuneigte. Das Verhältnis zwischen evangelischen und katholischen Deutschen war denkbar schlecht in dieser Phase, die manche Historiker heute als „zweites konfessionelles Zeitalter“ bezeichnen. Obwohl das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich nicht zuletzt aufgrund der preußischen Dominanz in gewisser Weise protestantisch geprägt war, empfanden die Gründer des Evangelischen Bundes eine Ohnmacht der evangelischen Kirche und eine unzureichende Berücksichtigung ihrer Interessen und ihrer Ideen in Politik, Staat, Gesellschaft und Kultur. Das lag unter anderem an den organisatorischen Strukturen der evangelischen Kirchen. Das landesherrliche Kirchenregiment schränkte deren Freiheit ein und erschwerte überregionale, zumal nationale Zusammenschlüsse. Außerdem boten die Landesherren und Regierungen ihnen nicht in dem erhofften Maße Schutz und Unterstützung. Gleichzeitig erlebten die evangelischen Christen, dass der Katholizismus sich wesentlich wirkungsvoller organisierte und mit der Fuldaer und Freisinger Bischofskonferenz, der Zentrumspartei und mit dem katholischen Vereinswesen erfolgreiche Strukturen geschaffen hatte. In organisatorischer Hinsicht schien der Protestantismus gegenüber dem Katholizismus ins Hintertreffen geraten zu sein. Diesem Zustand wollten die Gründer des Evangelischen Bundes entgegentreten.

Wie groß das Bedürfnis nach einer organisatorischen Stärkung des deutschen Protestantismus war, belegt schon das rasante Wachstum der Mitgliederzahlen. Bereits 1895 gehörten etwa 100.000 Menschen dem Evangelischen Bund an. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stieg die Mitgliederzahl auf 550.000, bevor sie während des Krieges deutlich zurückging. Der Evangelische Bund war im Wilhelminischen Deutschland die mit Abstand größte evangelische Vereinsorganisation und die drittgrößte Vereinsorganisation in Deutschland überhaupt. Regionale Schwerpunkte waren die Gegenden mit hohem katholischem Bevölkerungsanteil wie z.B. die Rheinprovinz, Westfalen, Schlesien, Posen und Teile Hessens, daneben aber auch der überwiegend evangelische mitteldeutsche Raum. In Städten war die Resonanz auf den Evangelischen Bund und sein Programm deutlich höher als in ländlichen Gebieten. Das Bildungsbürgertum war unter den Mitgliedern deutlich stärker repräsentiert als das Wirtschaftsbürgertum und die Arbeiter. Allerdings haben sich viele evangelische Arbeitervereine dem Evangelischen Bund als assoziierte Vereine angeschlossen.