Der Krieg und die Kunst der Unterscheidung
Bestimmte Daten sind fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Ich denke etwa an den 9. November 1938. In Deutschland brennen die Synagogen, Häuser und Geschäfte von Jüdinnen und Juden werden mutwillig zerstört und geplündert. Spätestens jetzt muss allen klar sein, dass jüdisches Leben in Deutschland in höchster Gefahr ist. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden werden sieben Jahre später ermordet worden sein. – Auch der 1. September 1939 ist solch ein Datum. An diesem Tag überfällt Hitlerdeutschland Polen und bringt unfassbares Leid über die Völker Europas. Deutschland wird sechs Jahre später ebenso am Boden liegen. – Das neueste Datum, das uns in schrecklicher Erinnerung bleiben wird, ist der 24. Februar 2022. Wladimir Putin befiehlt den Überfall auf die Ukraine und versetzt damit die ganze Welt in Angst und Schrecken: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Mittlerweile sind drei Millionen Menschen aus ihrem Heimatland geflohen – überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen. Sie erreichen die Grenze der benachbarten Staaten oft traumatisiert, durch Schreckstarre von dem Elend gezeichnet, dem sie entkommen sind. Darüber hinaus haben eine Million Ukrainer ihr Zuhause verlassen, um innerhalb des Landes eine Zuflucht zu finden. Dabei handelt es sich um die am schnellsten eskalierende Vertriebenenkrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg!
Was jetzt Not tut, hat Pavlo Shvarts, Bischof der deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, so auf den Punkt gebracht: „Nehmt Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten auf und bietet ihnen seelsorglichen Beistand an. Auch brauchen wir finanzielle Unterstützung für Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel und die Ausstattung von Notunterkünften.“ Und: „Sprecht laut über die Sünde des Krieges!“ Mittlerweile hat eine Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität ganz Europa erfasst. Auch unsere Kirchengemeinden und Kirchenbezirke sowie die Diakonie setzten sich dafür ein, dass in der Ukraine Katastrophenhilfe geschieht und die Menschen, die von dort zu uns kommen, begleitet werden, sie Alltagshilfen bekommen und spüren, dass sie willkommen sind. „Laut über die Sünde des Krieges zu reden“, heißt für uns Christen: deutlich zu widersprechen, wo Gott und der Glaube autokratischer Machtgier dienstbar gemacht werden. Denn nicht zu übersehen ist, dass in diesem Krieg auch die religiöse Dimension mitschwingt, die vor allem der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I., als Legitimation der gegenwärtigen Auseinandersetzungen anführt: Es ist das alte Narrativ von der Taufe der Kiewer Rus.
Im Jahr 988 hat sich Großfürst Wladimir zum Christentum bekehrt. Er wurde getauft und mit ihm alsbald alle Bürgerinnen und Bürger Kiews. Das war der Anfang des Christentums in Russland, die „Wiege der Rus“, die bis heute Russen, Ukrainer und Belarussen vereint. Sie zusammen bilden das „historische Russland“, das Putin und Kyrill in einträchtiger Symphonie immer wieder beschwören: eine heilige Sehnsucht, die als Rechtfertigung eines russischen Großreiches und damit des gegenwärtigen Krieges gegen ein Land instrumentalisiert wird, das als autonomer Staat, dieser Sicht zufolge, eigentlich gar keine Existenzberechtigung hat: die Ukraine.
Heute leben in den circa 70 aktiven russisch-orthodoxen Gemeinden Deutschlands Russen sowie belarussische und ukrainische Staatsangehörige friedvoll miteinander. Entsprechend hat Simon Simanovski, russisch-orthodoxes Gemeindeglied in Potsdam, eine Petition mit dem Titel „Russischsprachige Bewohner gegen Putins Aggression“ verfasst. Er geißelt darin den Angriffskrieg gegen die Ukraine, der in Deutschland zu der bestürzenden Folge führe, dass Russischsprachige als solche Feindseligkeiten und gewaltsame Übergriffe zu erdulden hätten. Vielleicht können Petitionen wie diese den orthodoxen Patriarchen von Moskau noch am ehesten erreichen, in denen seine eigenen Glaubensgeschwister ihr „Nein zu diesem Krieg“ bekunden, nachdem bisher bei ihm alle vergleichbaren Bitten, sich für das Ende des Krieges in der Ukraine einzusetzen, ins Leere gelaufen sind.
„Lasst uns alle Bosheit abwerfen, die Beleidigungen vergessen und einander aufrichtig vergeben, dann wird auch uns der Herr vergeben“, betonte kürzlich Erzbischof Tikhon von Ruza, Leiter der russisch-orthodoxen Diözese von Berlin und Deutschland. Dies sagte er im Blick auf die vielen ukrainischen Flüchtlinge orthodoxen Glaubens, die vor den Angriffen der russischen Armee in ihrem Heimatland geflohen sind – und jetzt bei uns in den russisch-orthodoxen Gemeinden auf russische Staatsangehörige treffen. Sie, die Russen, dürfen freilich nicht pauschal mit den Verursachern des Angriffskriegs gleichgesetzt werden. Vielmehr gilt es klar zu unterscheiden, auch angesichts der zunehmenden Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in unserem Land. Hier müssen wir gerade als Christen deutlich widersprechen und Frieden stiftend wirken. Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt und differenzieren zwischen den Adlaten Putins und der russischen Bevölkerung beziehungsweise den Völkern Russlands. Es kommt auf uns an, die Worte zu wägen, Unrecht, auch die Aggressoren, beim Namen zu nennen und sie dennoch nicht zu hassen. Auch Feindbildern von beiden Seiten zu widerstehen: sowohl der Identifikation des „Westens“ mit „dem Reich der Lügen“ als auch einer Russophobie, die alle Russen mit dem Kriegstreiber in Verbindung bringt. Nein, das elende Spiel der Verfeindung spielen wir nicht mit!
Das Blut, das derzeit im Krieg gegen die Ukraine vergossen wird, schreit zum Himmel. Gott hört die Schreie der Verzweiflung und der Ohnmacht – und er hört die Stimmen des Friedens. Darum liegen wir Gott in den Ohren und vertrauen der Kraft des Gebets: dass er, der Gott des Friedens, alle beschütze, deren Leben durch Waffengewalt bedroht ist – und den Verantwortlichen Wege zeige, das Leid und die Gewalt zu beenden. Dass er in allen Beteiligten und in uns den Geist der Liebe und der Versöhnung zur Entfaltung bringe, damit wir gemeinsam Werkzeuge des Friedens sind.
Bezeichnenderweise habe ich in russischen Klöstern gelernt, was jetzt vor allem Not tut: das „Herzensgebet“, das auch „Atemgebet“ genannt wird. Beim Einatmen rufen wir ihn an: „Herr Jesus Christus, du Sohn des lebendigen Gottes!“ Und beim Ausatmen fahren wir fort mit: „Erbarme dich meiner!“ Gott erbarme sich dieser Welt, die mit ihren Kriegen einen so schlimmen Lauf nimmt. Und führe seinen Frieden empor.
CS