Wie derzeit an vielen Stellen berichtet wird, gab und gibt es in mehreren orthodoxen Kirchen recht massiven Widerstand gegen das Aussetzen von Gottesdiensten bzw. gegen die notwendigen Einschränkungen für das Abhalten von Gottesdiensten. Besonders auffällig waren die Geschehnisse in der Ukraine. Dort – so kann man jedenfalls grob zusammenfassen – gab es relativ viele sogenannte ‚Corona-Dissidenten‘ in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat), dagegen wurden aus der neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) praktisch keine solchen Vorfälle berichtet. Man fragt sich natürlich, was die Gründe für eine solche Situation sind.
Wenn man genauer hinsieht, dann kommt der größte Widerstand gegen die Schließung von Kirchen und Vorsichtsmaßnahmen im Gottesdienst aus dem monastischen Milieu. Aber Klöster gibt es in der OKU nur wenige. Ein wichtigerer Grund ist vermutlich die offensichtlich engere Nähe der OKU zum ukrainischen Staat, während die Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine in den letzten Jahren immer wieder unter Einschränkungen und Anfeindungen von staatlicher Seite zu leiden hatte. Daher ist eine Haltung, die sich vom Staat nichts vorschreiben lassen will, verständlich. Hier spielt wohl auch die Tatsache mit hinein, dass die Mitgliedschaft der OKU stärker von Menschen geprägt ist, die national ukrainisch denken und Russland als Okkupator verstehen. Obwohl es diese Haltung auch in der UOK (MP) gibt, ist dort die Angrenzung gegenüber Russland nicht derart ausgeprägt.
Daher sind Gründe für die große Zahl von so genannten Corona-Dissidenten in der Ukraine sicher auch im größeren Zusammenhang der Situation in der Russischen Föderation zu suchen. Dort hat der Staat lange gezögert, anzuerkennen, dass von diesem Virus eine Gefahr ausgeht und hat daher sehr spät erst Maßnahmen ergriffen. Zwar hat Patriarch Kyrill dann sofort dazu geraten, nicht in die Kirche zu gehen, in den Kirchen Desinfektionsmaßnahmen durchzuführen und dergleichen, aber von Kirchenschließungen war nicht die Rede. Hier kann man ein Lavieren feststellen zwischen den Fundamentalisten und eher Progressiven in der Russischen Orthodoxen Kirche – eine Spannung, die schon lange in Russland schwelt. Für die erstgenannten ist es undenkbar, dass von der Eucharistie eine Gefahr für die Gesundheit ausgehen könnte. Erst als immer mehr Priester sich infizierten (bis Mitte Mai sind ca. 56 Priester, Nonnen, Mönche und andere Kleriker am Virus gestorben), scheinen manche nachdenklich geworden zu sein. Der Vorsteher des Klosters in Sergiev Posad meldete sich mit sehr eindrücklichen Worten, nachdem er von der Krankheit genesen war und machte deutlich: Auch Priester, auch gläubige Menschen können infiziert werden.
Für die Russische Orthodoxe Kirche bringt das Corona-Virus eine tiefe Verunsicherung, nicht nur materiell (wenn die Kirchen geschlossen sind oder kaum Gläubige zum Gottesdienst kommen, fällt der Kerzenverkauf als finanzielle Grundlage weg!), sondern auch spirituell: Man ist zum Umdenken gezwungen. Uralte traditionelle Riten wie die Austeilung der Kommunion müssen überdacht werden.
Das gilt aber nicht nur für die Orthodoxen in Russland. In der griechisch-sprachigen Orthodoxie in der Diaspora zeichnen sich unterschiedliche Haltungen hinsichtlich gerade dieser Frage ab: Der griechisch-orthodoxe Metropolit von Deutschland hat es als „schmerzlichste Entscheidung“ seines Lebens bezeichnet, den Eucharistieempfang durch Gläubige abzusagen. Außer den Klerikern kann niemand die Kommunion empfangen, für die Gemeindeglieder bleiben nur nicht-eucharistische Gottesdienste in den nun wieder geöffneten Kirchen. Grund für diese Maßnahme ist die Tatsache, dass die staatlich verordneten Hygieneregeln die traditionelle Kommunionausteilung verbieten, bei der mit Wein vermischtes Brot aus dem Kelch mit Hilfe eines gemeinsamen Löffels den Gläubigen in den Mund gegeben wird. Dagegen hat der griechisch-orthodoxe Metropolit von Österreich verordnet, von der traditionellen Austeilungsweise abzuweichen und die Kommunion den Gläubigen in die Hand (mit Handschuhen und weiteren Desinfektionsmaßnahmen) geben. Er beruft sich für seine Entscheidung auf Texte der frühen Kirchenväter, aus denen die Handkommunion als eine übliche alte Praxis hervorgeht und hat damit eine Möglichkeit gefunden, die Eucharistie auch in der Corona-Zeit gemeinsam mit der Gemeinde zu feiern.