Tun, was nötig ist, ohne sich selbst zu schonen. Anpacken, wo Hilfe gebraucht wird. Anderen Menschen beistehen, wenn deren Not am größten ist – solche Geschichten hören wir gegenwärtig viele aus den Krisengebieten an Ahr, Kyll und Erft. Luftaufnahmen zeigen Hunderte Fahrzeuge von Rettungsdiensten, Freiwilligen Feuerwehren und Technischem Hilfswerk, herbeigeeilt aus ganz Deutschland. Bauern rücken mit ihren Traktoren an. Abschleppunternehmer, Baufirmen, Zimmermannsbetriebe lassen alles stehen und liegen, um zu helfen. Spediteure karren Sachspenden aus der gesamten Republik heran. Von den immensen Geldspenden gar nicht zu reden! Allein im Ahrtal sind rund 2.500 Rettungskräfte im Einsatz, die meisten von ihnen ehrenamtlich. Hinzu kommen Nachbarn, Verwandte, Freunde und bisher Unbekannte, Fremde, die einfach zur Stelle sind.

Und auch sie sind da, rund um die Uhr: etwa 300 haupt- und ehrenamtlich tätige Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger. Denn die Menschen, die von der Flutkatastrophe betroffen sind, sind verwundet, gezeichnet von Trauer und Verlust. Nicht nur Hab und Gut, nicht nur Tiere, nicht nur ihre Heimat, wie sie ihnen vertraut war, haben sie verloren, sondern darüber hinaus nahe Angehörige und Nachbarn. Die Zahl der Todesopfer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist auf mindestens 166 gestiegen – und viele werden noch immer vermisst. Fragen brechen auf: „Warum?“ und „Wozu?“ Vor allem glaubende Menschen sind in ihrem Gottvertrauen erschüttert und tief angefochten.

„Zeigt sich in den Fluten nicht Gottes Straf- und Gerichtshandeln?“, meinen die einen. Andere leugnen, dass Gott überhaupt etwas mit dieser Krise zu tun habe; sie sei allein menschengemacht. Dabei frage ich mich: „Woher wollen sie das wissen?“ Ein Blick ins Neue Testament zeigt, dass Jesus sowohl hinsichtlich der Achtzehn, auf die der Turm in Siloah herabfällt (Lukas 13, 1 – 5), als auch hinsichtlich des Blindgeborenen in Johannes 9, 1 – 3 die Doktrin, Unheil sei eine von Gott verhängte Strafe, Vergeltung für die von den Betroffenen begangenen Taten, scharf zurückweist.

Andererseits wäre Gott nicht Gott, gäbe es keinen Zusammenhang zwischen dem Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt – und dieser grundstürzenden Erfahrung von Tod und Verwüstung, die die Gewalt der Wassermassen jetzt ausgelöst hat. Offenbar darf man sich Gottes Allmacht nicht so vorstellen, dass Gott alles Böse und Unbegreifliche im Vorhinein aus dem Lauf der Dinge herausschneidet. Obwohl er nach unseren Maßstäben bewahrend eingreifen müsste, handelt er augenscheinlich nicht. Eingedenk solcher Erfahrungen spricht Martin Luther vom „verborgenen Gott“, dessen Wollen uns zutiefst unzugänglich ist. Derart angefochten, sollen wir in unserer Verzweiflung aber nicht nach dem rätselhaften Willen des verborgenen Gottes suchen, sondern uns an Gottes – in Jesus Christus ein für alle Mal gezeigte – Liebe halten. Angesichts der vernichtenden Erfahrungen in der gegenwärtigen Flutkatastrophe glauben Christen, wenn überhaupt, gegen Gott an Gott. Sie fliehen von dem in den Wirrnissen und Nöten dieser Welt verborgenen, fernen, schweigenden – zu dem in Christus offenbaren Gott, der mit-geht und mit-leidet und uns gerade dann, wenn wir weder ein noch aus wissen, nahe ist. Gott paktiert nicht mit dem Tod. Er will auch im Tod auf das Leben hinaus. „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt“, so formuliert es Dietrich Bonhoeffer, „und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Der Blick auf den gekreuzigten Christus besagt: Gott lässt uns nicht im Stich, auch dann nicht, wenn wir von seiner Fürsorge nichts mehr wahrnehmen. Vielmehr ist er uns nahe, gerade in der Not, als selbst Verwundeter und Ausgestoßener.

Aus diesem Vertrauen heraus hat vor mehr als 3.000 Jahren ein Einzelner gebetet, dessen Sprachbilder sich gerade die, die jetzt Opfer der Flut geworden sind, leihen und zu eigen machen dürfen:
„Gott hilf mir!
Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist;
ich bin in tiefe Wasser geraten,
und die Flut will mich ersäufen“ (Psalm 69, 2f.).

Gott ist da – mitten im Schlamm der Überschwemmung. Mitten im Elend ist er mein Du, dem ich mich zumuten darf: mit meiner Klage, meiner Ohnmacht; mit meiner Bitte, irgendwie durchzukommen, mit meiner Hoffnung:
„Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich;
wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit
und verbirg dein Antlitz nicht vor mir,
denn mir ist angst; erhöre mich eilends.
Sei meiner Seele nahe und erlöse sie“ (Psalm 69, 17-19).

Das Gebet macht gewiss nicht alles gut. Es löst die Not nicht in Wohlgefallen auf. Aber die um Hilfe Rufenden finden eine Adresse, ein Gegenüber – im Vertrauen darauf, dass Gott sie hört, sie ansieht, es mit ihnen aushält und ihnen neue Kraft schenkt. Und auf einmal empfinden sie Dankbarkeit für erfahrene Unterstützung, gewinnen Mut zum Widerstand, sehen tiefer, klarer, nachhaltiger.
Und mit ihnen erkennen wir alle, wie rasant sich das Klima verändert und wie konkret die Bedrohung ist in Form von Gluthitze, Stürmen, Hochwasser, die dadurch entsteht. Auch, dass es in unsere ureigene menschliche Verantwortung gestellt ist, nicht gegen, sondern für und mit Gottes Schöpfung zu leben – also in Freiheit zu lassen, loszulassen und auf viel schöpfungsbedrohenden Konsum zu verzichten.

Ansprechpartner

Dr. h.c. Christian Schad
Präsident Evangelischer Bund e.V.