Am 18. April 1521, einem Donnerstag, tritt Martin Luther bei einbrechender Dunkelheit vor die Versammlung des Reichstags in Worms. In dem großen, mit Fackeln erleuchteten Saal sitzen neben dem erst 21 Jahre alten Kaiser Karl V. und den Fürsten die höchsten Kirchenvertreter des Reichs. An diesem Abend, vor diesem erlauchten Auditorium, wird der Mönch aus der kursächsischen Provinz die größte Rede seines Lebens halten.

Luther in Worms: Das ist einer der wenigen Fälle, in denen eine kirchengeschichtliche Schlüsselszene zugleich einen Höhepunkt der Weltgeschichte darstellt. Nicht erst in der Rückschau sieht man darin eine Epochenschwelle markiert.

Dass Luther überhaupt vor den Wormser Reichstag zitiert wurde, ist das Ergebnis eines vielschichtigen kirchenpolitischen Kräftespiels. In ihm war es vor allem der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, dem daran gelegen war, Luther die Möglichkeit zu verschaffen, seine Lehre mittels der Heiligen Schrift öffentlich zu verteidigen. Zusammen mit anderen erreichte er beim kaiserlichen Hof, dass der Wittenberger, obwohl mit dem päpstlichen Bann belegt und als Ketzer rechtskräftig verurteilt, von Karl V. dennoch eine Vorladung vor den Reichstag erhielt – unter Zusage freien Geleits für die Hin- und Rückreise. Ohne Zögern folgte Luther dem Ruf des Kaisers. Noch dazu, wo es im Vorladungsschreiben hieß, man wolle von ihm „Erkundung“ einholen seiner „Lehren und Bücher halben“. Bis zuletzt ging er davon aus, dass ihm eine sachliche, ergebnisoffene Auseinandersetzung über seine Lehre und deren Prüfung auf Basis der Heiligen Schrift bevorstand; etwas, was Luther selbst immer wieder eingefordert hatte. Umso mehr musste es ihn überraschen, ja entsetzen, dass er, in Worms angekommen, am 17. und 18. April 1521 lediglich dazu aufgefordert wurde, sich als Autor zu seinen Büchern zu bekennen und seine Lehre zu widerrufen – ohne irgendeine Chance, die Wahrheit des Evangeliums, wie sie sich ihm im Studium der biblischen Schriften erschlossen hatte, argumentativ darzulegen oder gar zur Diskussion zu stellen. So bat er nach einem ersten Verhör am 17. April um eine kurze Bedenkzeit, um am Tag darauf vor dem einzigen weltgeschichtlichen Forum in seinem Leben seine wohl bedeutendste (Verteidigungs-)Rede zu halten.

In ihr bekennt Luther sich zu seinen Schriften und macht deutlich, welcher Art sie seien. Er könne sie nicht widerrufen, da er sonst der Gottlosigkeit, dem Unglauben, Tor und Tür öffne. In der Tat: Der hier redet, ist entschieden und sich seiner Sache gewiss. Er tritt mit seiner ganzen Person, mit seinem ganzen Leben, für die Wahrheit ein, die sich ihm im Meditieren der Heiligen Schrift erschlossen hat. Er beruft sich dabei auf Christus selbst, wenn er sagt: „Weil ich ein Mensch bin und nicht Gott, kann ich meine Schriften nur so verteidigen wie mein Herr Jesus Christus seine Lehre verteidigt hat. Als er vor Hannas über seine Lehre befragt wurde und ein Diener ihm ins Gesicht schlug, hat er gesagt: ‚Habe ich Unrecht getan, so beweise es, dass es Unrecht ist.‘“ Entsprechend fordert Luther Zeugnisse, Argumente gegen seine Lehre. Er will, dass die Gegner ihm endlich sagen, was denn falsch sei an dem, was ihm zur Gewissensgewissheit geworden war. „Wenn ihr meine angeblichen Irrtümer mit Propheten- und Evangelienworten widerlegt, dann will ich der Erste sein, der meine Bücher selbst verbrennt.“ Es ist die Leidenschaft eines Menschen, den man zwar als Häretiker verurteilt, ihm aber keine Gelegenheit gegeben hat, seine Sache im Disput offenzulegen. Es geht um das elementare Recht, für eine Überzeugung, für das als wahr Erkannte, einzutreten und dafür einzustehen. Um die Möglichkeit des offenen Diskurses und darum, einer Auseinandersetzung gewürdigt zu werden. Sein Mitstreiter Philipp Melanchthon wird im Augsburger Bekenntnis von 1530 die Art und Weise, in der man geistliche Vollmacht in der Kirche ausüben solle, so beschreiben: „ohne menschliche Gewalt, allein durch Gottes Wort“ und folglich allein mit Hilfe des überzeugenden Arguments. Deshalb besteht Luther in Worms darauf, begründet widerlegt zu werden. Andernfalls, das heißt bloß aus Druck oder Zwang, könne und werde er nicht widerrufen. Aus diesem zutiefst geistlichen, weil im Wesen des Evangeliums wurzelnden Protest für eine offene Wortkultur, die sich im Diskurs, auch im öffentlichen Streit um die Wahrheit, ausdrückt, setzte die Reformation eine Entwicklung in Gang, die schließlich dem Postulat eines „herrschaftsfreien Dialogs“, einer von Verzerrungen und Hierarchien freien Kommunikation in einer pluralen Gesellschaft, den Weg ebnete.

Worauf baut Luther nun konkret in seiner Verteidigungsrede? Wörtlich sagt er: „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder durch klare Gründe der Vernunft überführt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststeht, dass sie häufig geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen, und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen, da es weder sicher noch recht ist, gegen das Gewissen zu handeln.“ Drei Größen sind es, die Luther hier anführt: 1. Zeugnisse der Heiligen Schrift; 2. klare Gründe der Vernunft und 3. das in Gottes Wort gefangene Gewissen. Zum Ersten: Luther ist in einem ganz grundsätzlichen Sinn biblischer Theologe. Die Bibel ist sein Zuhause. Schon im Kloster in Erfurt hat er, über sich selbst verzweifelnd, um eine Bibel gebeten und „sie gelesen, wieder gelesen und nochmals gelesen“. Immer deutlicher entdeckt er, dass die Person Jesu Christi, sein Leben, Sterben und Auferstehen für uns, die Mitte der Schrift ist, die Spitze, in der alles zusammentrifft, das Ziel, auf das alles hinausläuft. Weil er in Christus das Lebenswort schlechthin erblickt, geht es bei der Auslegung der Heiligen Schrift nicht bloß um einen verstandesmäßigen Akt – das auch. Vielmehr darum, sich das Evangelium als existenziellen Trost je neu zusagen zu lassen: so, dass ich nicht nur, wie Luther formulieren kann, „wisse und verstehe, sondern auch erfahre, wie recht, wie wahrhaftig…, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei“. Dass sich diese eigene, persönliche Erfahrung im Hören auf das äußere Schriftwort einstellt, also in der Bindung an den Buchstaben und die Grammatik der biblischen Texte, dies führt Luther zum Zweiten: dass er zugleich der Vernunft den ihr gebührenden Ort einräumt. Im Jahr 1525 kann er gegenüber dem Humanisten Erasmus von Rotterdam die kritische Frage stellen: „Wie kann ein Christ glauben, was er nicht versteht?“ Mit anderen Worten: Luther hat die im Glauben erfahrene Gewissheit nicht durch den Verzicht auf eigene Denkverantwortung erkauft. Vielmehr ist seine biblisch fundierte Theologie zugleich rational kontrolliert. Deshalb bestreitet er sowohl gegenüber dem Papst als auch gegenüber den das rein äußere Schriftwort missachtenden Enthusiasten das Recht, das Verstehen der Bibel an eine ihr vor- und also übergeordnete Autorität zu binden; öffne dies doch der Spekulation und Willkür Tor und Tür – und führe schließlich dazu, die Heilige Schrift nach eigenem Gutdünken zu interpretieren. Deshalb verbindet sich für Luther das Hören auf das Zeugnis der Schrift mit der Anwendung des gesunden Menschenverstands. Wobei ihm, lange vor Immanuel Kant, die Vernunft zumal darin und dann als vernünftig erscheint, wenn sie jederzeit auch ihre Grenzen zu erkennen und anzuerkennen bereit ist. Gegen eine unkritische Verwechslung von Aberglaube und Glaube bietet Luther hier die Ratio auf. Trägt doch ein nicht durch die Vernunft aufgehellter Glaube die Gefahr in sich, willkürlich und barbarisch zu werden. Genauso wie eine nicht durch den Glauben aufgeklärte Vernunft unerfahren bleibt, weil sie sich keine Rechenschaft über ihre Grenzen ablegt. Gerade in ihrer Unterschiedenheit gehören Glaube und Vernunft zusammen. Geht es Letzterer um Wissensgewissheit, so führt der Glaube zur Gewissensgewissheit. Diese ist unverfügbar, ganz und gar verdankt, weil gebunden, „gefangen in Gottes Wort“, wie Luther sagt. Die Bindung an ein gewiss machendes, verlässliches Wort stellt er vor Kaiser und Reich über alles. Nicht das kraftvolle, autonome Subjekt, sondern der angefochtene, aber im göttlichen Wort gehaltene und sich seinerseits an dieses Wort haltende Einzelne kommt damit zur Sprache, für den das Gewissen zur Quelle der Freiheit wird. Denn hier empfängt er zuinnerst den Trost des Evangeliums. Das Gewissen ist für Luther darum kein Organ des sittlichen Bewusstseins, mithin kein moralisches, sondern ein theologisches Phänomen; derjenige Ort, wo ich – als unvertretbar dieser einzelne Mensch – das vorbehaltlose Ja Gottes zu mir als Person vernehme. Insofern steht im Gewissen nicht nur das Urteil über das Tun, sondern über das Sein des Menschen auf dem Spiel, dem Forum also, das Luther in Worms als dritte und entscheidende Größe anführt. So hat er – im Angesicht des drohenden Ketzertodes – auf der in der Bindung an Gottes Wort begründeten Freiheit seines Gewissens bestanden und mutig bekannt. Kein Wunder, dass man ihm noch zu Lebzeiten die mutmaßlich sekundäre Pathosformel „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ in den Mund legte.

Alle, auch den Kaiser, bewegte Luthers Rede so stark, dass dieser am Tag darauf als Antwort ein eigenes Bekenntnis zu Papst und Tradition ablegte: „Denn es ist gewiss, dass ein einziger Bruder irrt, dessen Meinung gegen die der gesamten, über tausend Jahre alten Christenheit steht.“ Ein Individuum, so Karl V., kann gegenüber einer derart qualifizierten Mehrheit unmöglich im Recht sein! Am 25. Mai 1521 eröffnete er folglich das „Wormser Edikt“, das Luthers Lehre und ihre Verbreitung verbot. Zuwiderhandlungen sollten mit der Todesstrafe geahndet werden. Als – nach einer Phase der Duldung – auf dem Zweiten Speyerer Reichstag von 1529 die Anhänger der Luther’schen Reformation mit ausdrücklichem Verweis auf das Wormser Edikt doch noch mundtot gemacht werden sollten, nahm eine Minderheit, nämlich sechs Fürsten und die Vertreter von 14 freien Reichsstädten, selbstbewusst das Recht für sich in Anspruch, sich – wiederum unter Berufung auf das eigene, an das Evangelium gebundene Gewissen – gegen die Mehrheitsentscheidung in Glaubensdingen zu wenden. Denn, so lautete der Kernsatz ihrer „Protestation“, „in Sachen Gottes Ehr und unser Seelenheil und Seligkeit belangend, muss ein jeglicher selber vor Gott stehen und Rechenschaft geben“. So ging von der Reformation ein Impuls aus, der, durch mannigfache Transformationsprozesse hindurch, zur religiösen Toleranz und letztendlich zum Grundrecht der individuellen Gewissens- und Glaubensfreiheit führte.

Luther verließ am 26. April 1521 Worms. Nachdem er auf der Rückreise, für die Öffentlichkeit unbemerkt, auf die Wartburg im Thüringer Wald entführt wurde, blieb er zehn Monate lang der Welt entzogen. In der Einsamkeit entfaltete er dann aber eine literarische Produktivität, die für die weitere Entwicklung der Reformation entscheidend werden sollte. So verfasste er beispielsweise eine Sammlung evangelischer Musterpredigten, die sogenannte „Wartburgpostille“, um sie später den seines Erachtens unzureichend ausgebildeten Pfarrern zur Verfügung zu stellen. Zugleich dienten die Auslegungen Luthers als Lesepredigten für jedermann. Im Zentrum seiner Arbeit auf der Wartburg stand jedoch die Übersetzung des Neuen Testaments aus dem griechischen Urtext in ein lesbares Deutsch, durch dessen Ausdruckskraft er die älteren Bibelübertragungen bei Weitem übertraf – und in der Folge viele Menschen zum Bibellesen anregte .Damit unterstrich Luther nicht nur seinen Anspruch, der Bibel im Leben umfassend Raum zu geben, so dass Gottes Wort – Heil und Gewissheit schenkend – sich im Gewissen, im Herzen, im Personzentrum jedes Einzelnen Gehör verschaffen kann; mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments entwickelte sich darüber hinaus die Reformation definitiv zu einer Bibelbewegung. Insofern prägte Luther mit seiner Konzentration auf das Verstehen der Heiligen Schrift nicht nur die weitere deutsche Sprachgeschichte, sondern legte damit vor allem die wichtigste Grundlage evangelischer Frömmigkeit und reformatorischen Gemeindeaufbaus. Mit seiner Abhandlung über das Klosterwesen schließlich, in der er die bindende Kraft der Gelübde in Frage stellte, waren zugleich weitreichende praktische Folgen verknüpft; begann doch mit der Publikation dieser Schrift der massenhafte Austritt aus den Klöstern. So schuf Martin Luther in dem durch die Wormser Ereignisse ausgelösten Exil Werke, die die Basis für den Neubau eines evangelischen Kirchenwesens bilden sollten. In diesen Monaten, in denen er selbst zum ersten Mal seit 16 Jahren für längere Zeit außerhalb eines Klosters lebte, legte er konsequenterweise und für immer sein Mönchshabit ab. Hatte er es in Worms noch bewusst getragen, vollzog er nun sichtbar eine dramatische biographische Wende: Sie machte ihn zum Reformator.

Dr. h.c. Christian Schad war von 2008 bis Februar 2021 Präsident der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche). Seit März 2021 ist er im Ehrenamt Präsident des Evangelischen Bundes.

 

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