Was bedeutet für Sie, evangelisch zu sein?
Evangelisch zu sein, bedeutet zunächst im Wortsinn: das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugt ist, mit Wort und Tat zu bekennen. Dazu gehört immer auch, dass wir dies nicht nur in unserer eigenen Kirche, in unserer eigenen Konfession, ernst- und wahrnehmen, sondern Evangelizität auch in anderen Kirchen und Konfessionen erkennen und anerkennen. Als Evangelische Kirche und in ihr als Evangelischer Bund wollen wir das Evangelium aufgrund der in der Reformation gewonnenen Einsichten für Kirche und Gesellschaft zur Geltung bringen. Und zwar so, dass wir dabei nicht der Versuchung erliegen, durch Abgrenzung und Negation des anderen das eigene Profil zu schärfen. Wir uns vielmehr – im Sinne einer Ökumene der Gaben und der wechselseitigen Begabungen – am eigenen Reichtum und am Reichtum anderer freuen, um uns wechselseitig zu ergänzen. In diesem Sinn bringen wir die Stärken unserer Evangelischen Kirche in das ökumenische Miteinander ein, also z.B. die gemeinsame Verantwortung aller Getauften, die die Reformation als das allgemeine Priestertum der Gläubigen beschrieben hat, der Respekt vor der Urteilsfähigkeit der Gemeinden und als Folge daraus die presbyterial-synodale Leitungsstruktur, der gleiche Zugang von Frauen zum geistlichen Amt oder auch die Einsicht in die Fehlbarkeit des kirchlichen Lehramts.
Worin sehen Sie gegenwärtig die größten Herausforderungen im ökumenischen Gespräch?
Dass wir den verschiedenen konfessionellen Entfaltungen des Evangeliums von Jesus Christus Raum geben. Gerade im Blick auf das gemeinsame Zentrum unseres christlichen Glaubens können unterschiedliche Ausgestaltungen gewürdigt werden, ohne dass es zu Trennungen und Abgrenzungen kommen muss, im Gegenteil! Diese Ausgestaltungen sind Ausdruck der „bunten Gnade Gottes“ (1. Petrus 4,10). Nicht Auflösung der konfessionellen Profile, auch nicht dies, sich selbst unkenntlich zu machen, ist darum das Ziel der Ökumene. Vielmehr soll deren trennender Charakter überwunden werden. Unsere verschiedenen Traditionen müssen ihre Farbe also keineswegs verlieren, wenn wir gemeinsam das eine Fundament sichtbar machen, auf dem wir als Christinnen und Christen stehen: „ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (Epheser 4,5f.). Nicht Differenzen an sich sind somit das Problem. Sie werden allerdings zu einem solchen, wenn und insofern sie spalten. Was wir deshalb brauchen, ist dies: dass wir Vielfalt und Einheit, Weite und Konzentration, neu miteinander verbinden. Mithin zu mehr Sichtbarkeit in der Einheit und zu mehr Versöhnung in der Verschiedenheit kommen. Das Ziel aller ökumenischer Bemühungen sehe ich deshalb in der sichtbaren Einheit der Kirche Jesu Christi als vielfältig gestalteter Gemeinschaft unter dem einen Herrn, die in einem Glauben Gottesdienst feiert, sich an seinem Tisch versammelt und aus dieser Quelle heraus ihre Weltverantwortung wahrnimmt.
Sie haben vor wenigen Wochen im Vatikan auf höchster Ebene ökumenische Gespräche geführt, u.a. mit Kardinal Ladaria, dem Präfekten der Glaubenskongregation, und mit Kardinal Koch, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen. Was haben sie beiden mit auf den Weg gegeben?
Im Zentrum meiner Gespräche stand das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen aus dem Jahr 2020 mit dem Titel: „Gemeinsam am Tisch des Herrn“. Hier ist im Blick auf das Herrenmahl ein ökumenisches Grundeinverständnis formuliert, das den Begründungsrahmen abgeben will für die individuelle Gewissensentscheidung einzelner Glaubender, wechselseitig zur Eucharistie bzw. zum Abendmahl hinzuzutreten. Es geht hier also nicht um Interkommunion oder gar Interzelebration, sondern um eine eucharistische Öffnung als Ausdruck schon bestehender Kirchengemeinschaft, die dynamisch auf die volle Kirchen- und Gottesdienstgemeinschaft hinzielt. Jenseits einer Alles-oder-nichts-Position plädiert das Votum für einen ersten, vorsichtigen Schritt, nämlich für eucharistische Gastfreundschaft bzw. Gastbereitschaft im gegenseitigen Respekt vor den je anderen Traditionen und Feierformen. Würde diese Öffnung auch von römisch-katholischer Seite legitimiert, wäre in Deutschland, das versuchte ich in Rom zu vermitteln, nicht mit einem exorbitanten Anstieg der Kommunikanten bei der Abendmahls- bzw. Eucharistiefeier zu rechnen. Diesbezüglich sei der ökumenische Zenit längst überschritten. Vielmehr seien es v.a. konfessionsverbindende Paare und Familien und die, die in beiden Konfessionen „mit Ernst“ Christen und darum ökumenisch engagiert seien und sich darüber hinaus an kirchenleitende Vorgaben hielten, für die diese Öffnung ein wichtiger Schritt bedeute: nämlich guten Gewissens an den Herrenmahlsfeiern der je anderen Konfession teilzunehmen. Einer qualifizierten Minderheit in unseren beiden Kirchen käme man hiermit entgegen.
Ein Zweites versuchte ich deutlich zu machen: Was uns derzeit evangelisch-katholisch noch miteinander verbindet, ist dies, dass wir theologisch verantwortet Ökumene betreiben wollen. Konkret: der Methode des differenzierten Konsenses nach wie vor verpflichtet sind, indem wir, ausgehend von einem gemeinsamen theologischen Grundeinverständnis, fragen, ob bleibende Unterschiede heute noch kirchentrennend seien oder nicht. Wenn allerdings nach auf diesem Weg erreichten Konsensen bzw. Konvergenzen daraus nie praktische Schritte der wechselseitigen Öffnung erfolgen, weil die theologische Latte gewissermaßen immer noch höher gelegt werde, dann, so meine Befürchtung, könnte auf Dauer die Methode selbst in Frage gestellt und ökumenische Verständigung, wenn überhaupt, auf anderem als auf theologisch verantwortetem Weg gesucht werden. Schon deswegen plädierte ich in Rom dafür, dem Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ auch kirchenleitend zu entsprechen.
Unsere Gesellschaft wird auch religiös immer pluraler. Wie beurteilen Sie die Chancen des interreligiösen Dialogs?
Ja, wir leben in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft. Für die friedliche Gestaltung unseres Alltags sind Begegnungen und ehrliche Verständigungen, der Respekt vor dem Anderssein des anderen und die Achtung des von mir Verschiedenen entscheidende Voraussetzungen. Freilich, ein ernsthaftes interreligiöses Gespräch wird unmöglich, sofern das Selbstverständnis und die Wahrheitsansprüche der Partner ausgeklammert werden. Erst im Dialog der Wahrheitsgewissheiten, erst im wechselseitigen Offenlegen der religiösen Grundüberzeugungen und handlungsleitenden Basisorientierungen kommt es zur wirklichen Begegnung unterschiedlicher religiöser Identitäten. Denn anerkennen und achten kann ich doch immer nur das mir bekannte Fremde. Das unbekannte Fremde bleibt bedrohlich und ist oft die Ursache für ein Zerrbild des anderen. Deshalb gehört das Zeugnis darüber, was uns etwa als Christen und Muslime im Innersten bestimmt, zum interreligiösen Dialog hinzu. Nur so sind ein gegenseitiges Verstehen und ein Verständnis füreinander möglich, auch wenn dies u.U. die Unterschiede stärker hervortreten lässt als die Gemeinsamkeiten. Worauf es m.E. ankommt, ist also eine Kultur der Differenz. Denn Dialog heißt nicht, sich auf ethische Minimalkonsense der Religionen zu beschränken, sondern mit der offengelegten Vielfalt unterschiedlicher religiöser Geltungsansprüche konstruktiv und das heißt zivilisiert und friedvoll umgehen zu lernen. Dies beinhaltet eine Haltung des wechselseitigen Respekts, die die eigene Glaubensgewissheit nicht relativiert oder zurücknimmt und die Ernsthaftigkeit anderer religiöser Überzeugungen nicht in Frage stellt. So können gerade die Erfahrungen im innerchristlich-ökumenischen Gespräch dem interreligiösen Dialog dienen.
Worin sehen Sie in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und kirchlichen Lage die Aufgaben des Evangelischen Bundes?
„Den Nächsten kennen wie sich selbst“, dieses Leitwort des Evangelischen Bundes und seines Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim ist in einer immer pluraler werdenden Gesellschaft aktueller denn je. Konkret bedeutet das: der anderen Konfession, auch der anderen Religion, mit Achtung zu begegnen. Andere gerade in ihrem Anderssein wahrzunehmen, mithin zu versuchen, sie in ihrer Eigenart zu verstehen, um konstruktiv mit Verschiedenheit umzugehen und im Dialog mit ihnen unser Evangelisch-Sein unaufdringlich, aber bestimmt zur Geltung zu bringen: „sine vi, sed verbo“, „ohne Gewalt, sondern durch das überzeugende Wort“, wie Philipp Melanchthon das im 28. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 formuliert hat. Ein Begriffspaar ist mir in diesem Zusammenhang wesentlich, nämlich „Identität und Verständigung“, übrigens 1994 der Titel einer EKD-Denkschrift. Während Unwissenheit und Indifferenz ein wirkliches Miteinander mit anderen verunmöglichen, ist das Wissen um die eigene Herkunft und Identität, auch die Fähigkeit, sich entsprechend positionieren zu können, Voraussetzung einer echten Verständigung in unserer zunehmend multikulturell und multireligiös bestimmten Gesellschaft. Hier genau sehe ich die Aufgabe des Evangelischen Bundes heute: miteinander die biblische Tradition und das reformatorische Erbe wach zu halten, verstehbar und aktuell aussagbar zu machen und als Auftrag zu begreifen, auf dieser Basis weiter nach der Einheit der Kirchen in versöhnter Vielfalt zu suchen. Also evangelisch und ökumenisch zugleich zu sein und dabei die Begegnung und den lebendigen Austausch untereinander und mit anderen immer neu zu ermöglichen und zu pflegen.
Wie bestimmen Sie das Verhältnis des Evangelischen Bundes zur verfassten Kirche?
Der Evangelische Bund ist das Konfessionskundliche und Ökumenische Arbeitswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als solches Träger des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Insofern verstehe ich den Evangelischen Bund und sein Konfessionskundliches Institut als Dienstleister innerhalb der und für die Evangelische Kirche, denen es speziell darum geht, die konfessionskundlichen und ökumenischen Kompetenzen auf den unterschiedlichen kirchlichen Ebenen zu stärken und Konfessionssensibilität zu fördern. So wird etwa im Bensheimer Institut wissenschaftliche Expertise in Bezug auf die Entwicklung der Ökumene und die unterschiedlichen Konfessionen erarbeitet, die durch eigene Forschung in den akademischen Diskurs eingebracht wird. Zugleich hilft das Konfessionskundliche Institut durch Tagungen, Fortbildungskurse etc. beim Aufbau entsprechender Fähigkeiten. Schließlich berät es Kirchen, Kirchenbezirke und -gemeinden im Hinblick auf ökumenische und konfessionskundliche Fragestellungen. Der Evangelische Bund trägt mit seinen Aktivitäten auf landeskirchlicher Ebene nun seinerseits dazu bei, die Ergebnisse der Arbeit des Konfessionskundlichen Instituts einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Zunehmend wichtig ist mir hier auch die Förderung des theologischen Nachwuchses, zumal ökumenische und konfessionskundliche Themen in der universitären Ausbildung oft nur am Rand bearbeitet werden. So ist der Evangelische Bund innerhalb unserer Kirche ein ausgezeichneter Ort, an dem wir unseren Glauben gemeinschaftlich leben und reflektieren können.