Das Unvorstellbare ist geschehen. Nach der Anerkennung von Luhansk und Donezk als „unabhängige Volksrepubliken“ durch den Kreml und dem darauffolgenden militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine stehen wir erschüttert vor der Tatsache:
Grenzen zwischen Ländern werden willkürlich verschoben. Die Souveränität von Nationen wird missachtet. Das Völkerrecht wird gebrochen und der Friede auf unserem Kontinent aufs Spiel gesetzt. Es herrscht wieder Krieg in Europa.
Wie positionieren sich da die Kirchen, deren Auftrag Jesus in den Seligpreisungen unmissverständlich benennt, wenn er sagt: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Matthäus 5,9)?
Bereits seit Beginn der 1990er Jahre war die Orthodoxie in der Ukraine gespalten. Es gab drei orthodoxe Kirchen, von denen zwei in der Weltorthodoxie nicht anerkannt waren. Vor vier Jahren unternahm der ökumenische Patriarch Bartholomäus I. von Konstantinopel, der das Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Christen ist, den Versuch, Einheit herzustellen. Das Ergebnis war, dass sich die beiden unkanonischen Kirchen zusammenschlossen in einer neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine, die Patriarch Bartholomäus am 6. Januar 2019 als „autokephal“, das heißt als eigenständig, erklärte. Der Patriarch von Moskau, Kyrill I., betrachtete diese Gründung als nichtkanonischen Eingriff in das eigene Territorium. Entsprechend kündigte er die Kirchengemeinschaft mit Bartholomäus auf und bezichtigte ihn der Kirchenspaltung. So existieren heute in der Ukraine zwei orthodoxe Kirchen: die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) mit dem Metropoliten Epiphanius als Oberhaupt – zu ihr gehören 45,7 Prozent der Ukrainer – und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP), die eine autonome Kirche innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche ist, mit Metropolit Onufrij an der Spitze. Zu ihr zählen sich angeblich 13,3 Prozent der ukrainischen Staatsangehörigen.
Wie sich die genannten orthodoxen Kirchen gegenwärtig äußern, zeigt folgende Gegenüberstellung:
Einen Tag vor Kriegsbeginn gratulierte der Moskauer Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill I. Präsident Putin zum „Tag der Verteidigung des Vaterlandes“. Er erklärte, dass er im Kriegsdienst eine Bekundung von „Nächstenliebe nach dem Evangelium“ sehe. Putin wünschte er „Seelenfrieden und Gottes Hilfe bei seinem hohen Dienst am russischen Volk“. Einen Tag später, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, rief er zwar beide Seiten dazu auf, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, beschwor aber am Sonntag, dem 27. Februar 2022, in seiner Predigt das eine „historische Russland“ und schloss sich damit der Sicht Putins an, wonach Russen, Ukrainer und Belarussen ein Volk seien und darum, so kann man schlussfolgern, ein autonomer ukrainischer Staat eigentlich keine Existenzberechtigung habe: „Ich bitte Sie alle“, so Kyrill, „besondere Gebete für den Frieden zu erheben – für den Frieden in der Weite des historischen Russlands, damit unsere Kirche ihre Einheit bewahrt, damit unser Volk jene starken Bande der Brüderlichkeit, der Einheit bewahrt, die durch die gemeinsame Taufe und die mehr als 1000-jährige Tradition des gemeinsamen geistlichen Lebens entstanden sind. Möge der Herr das russische Land beschützen, möge der Herr unser Vaterland, unsere Kirche beschützen und jeden von uns in dieser schwierigen Zeit geistig und körperlich stärken!“
Dass es innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche aber auch ganz andere Stimmen gibt, belegen nun bezeichnenderweise Äußerungen des Metropoliten Onufrij, Oberhaupt der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine forderte er, den Krieg zu beenden und verglich den Angriff Russlands mit dem Brudermord Kains an Abel. Wörtlich sagte er: „In Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine appellieren wir an den russischen Präsidenten und fordern, den Bruderkrieg unverzüglich zu beenden…Der Krieg zwischen diesen Völkern (Russland und Ukraine) ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der aus Neid seinen eigenen Bruder tötete. Ein solcher Krieg ist weder vor Gott noch vor den Menschen gerechtfertigt.“
Mittlerweile hat sich auch die Synode der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats an Kyrill I. gewandt mit der Bitte, „die Führung der Russischen Föderation aufzufordern, die Feindseligkeiten, die bereits drohen, sich in einen Krieg zu verwandeln, sofort einzustellen.“
Gerade in dieser zentralen Forderung stimmen heute die beiden getrennten orthodoxen Kirchen in der Ukraine überein. So schrieb der Metropolit der Orthodoxen Kirche der Ukraine, Epiphanius, am 27. Februar 2022 an den Moskauer Patriarchen Kyrill I.: „Am vierten Tag geht die unprovozierte, umfassende Aggression Russlands, des Staates, dessen orthodoxe Kirche Sie führen, gegen die Ukraine weiter. Infolge des von der Führung Ihres Landes entfesselten Krieges leiden Millionen von Menschen. Hunderttausende von Kindern, Frauen und älteren Männern sind gezwungen, einen sicheren Ort zu suchen, indem sie ihre Häuser verlassen. Jeden Tag sind unsere Mitbürger gezwungen, während des Beschusses unserer Städte durch russische Truppen Stunden in Notunterkünften zu verbringen. Soldaten und Zivilisten sterben. Leider geht bereits aus Ihren öffentlichen Äußerungen hervor, dass Ihnen die Wahrung der Gunst Putins und der russischen Führung viel wichtiger ist, als sich um die Menschen in der Ukraine zu kümmern, von denen einige Sie vor dem Krieg als ihren Seelsorger betrachteten. Daher macht es kaum Sinn, Sie zu bitten, etwas Effektives zu tun, um Russlands Aggression gegen die Ukraine zu stoppen. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass Sie zumindest in Bezug auf ihre eigenen Mitbürger, von denen die meisten orthodoxe Christen sind, Ihre Herde, die geistige Kraft haben werden, Menschlichkeit und Fürsorge zu zeigen.“
Diesem Appell schloss sich jetzt auch der Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen, Ioan Sauca, in einem Brief an das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche an. Er schreibt: „In diesen Zeiten der Hoffnungslosigkeit schauen viele auf Sie als denjenigen, der ein Zeichen der Hoffnung für eine friedliche Lösung bringen kann.“ Und er, der der Rumänisch-Orthodoxen Kirche angehört, endet mit der Bitte: „Erheben Sie Ihre Stimme für die leidenden Brüder und Schwestern, zum größten Teil gläubige Angehörige unserer orthodoxen Kirche.“
Als Minderheit leben in der Ukraine auch evangelische Christen. Pavlo Shvarts, Landesbischof der deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, ruft seinen europäischen Glaubensgeschwistern zu: „Nehmt Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten auf und bietet ihnen seelsorglichen Beistand an. Betet und sprecht laut über die Sünde des Krieges und nicht über irgendeinen imaginären Frieden, der gemeinsame Schuld beider Seiten vorgaukelt. Darüber hinaus brauchen wir auch finanzielle Unterstützung für Lebensmittel, Medikamente, Hygieneprodukte und die Ausstattung von Notunterkünften.“ Auch die Evangelisch-Lutherische Kirche Europäisches Russland fordert die „friedliche Beilegung von Konflikten und Spannungen“ und ruft zum Gebet für „die baldige Wiederherstellung des friedlichen Zusammenlebens“ auf.
Am 23. Februar 2022 hat zudem der All-ukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften ein Friedensgebet abgehalten, bei dem neben den beiden
orthodoxen Kirchen auch die in der Ukraine lebenden Katholiken und Protestanten sowie Juden und Muslime vertreten waren. Hier wurde ein Appell an Putin herausgegeben, in dem es heißt: „Wir bezeugen verbindlich und einstimmig, dass das ukrainische Volk keinen Krieg sucht, und wir betrachten es als die gemeinsame Pflicht der Gläubigen, ihn zu beenden, bevor es zu spät ist. Das Gebot des Allmächtigen „Du sollst nicht töten“ bestimmt den absoluten Wert des menschlichen Lebens und Gottes strenge Strafe für den Mörder. Ein Angriffskrieg ist ein großes Verbrechen gegen den Allmächtigen.“
Die Ukraine ist in Europa somit dasjenige Land, das gegenwärtig zur Bewährungsprobe wird, ob und wie eine europäische Gemeinschaft möglich ist, die nicht auf Abgrenzung, sondern dem Ausgleich unterschiedlicher Mentalitäten beruht. Denn hier fließen die Geschichten polnisch-litauischer, habsburgischer, russischer, deutscher, rumänischer und ungarischer Kulturen zusammen. – Werden sie in gegenseitiger Anerkennung und Bereicherung koexistieren können und wollen? Werden sie sich als Brückenkopf für den friedlichen Austausch zwischen Ost und West erweisen? Und könnten hier nicht gerade die Kirchen in der Ukraine friedenstiftend wirken? Das Wort Jesu, das die, die Frieden schaffen, seligpreist, gilt doch all den unterschiedlich geprägten Menschen und Gemeinschaften in seiner Nachfolge.
CS