UkraineBloodlands“, Länder getränkt von Blut, so hat der renommierte Yale-Historiker Timothy Snyder die Verheerungen beschrieben, die das östliche Polen, Belarus, das westliche Russland und vor allem die Ukraine im langen 20. Jahrhundert immer wieder ereilt haben. Sei es unter stalinistisch-sowjetischer Herrschaft, sei es im Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten in den 1940er Jahren. Als Snyder das Buch 2010 schrieb hätte er wohl nicht ahnen können, dass diese Metapher der „Blutländer“ schon zwölf Jahre später erneut grausame Wirklichkeit wird.

„Bloodlands“: So stellen sich weite Teile der östlichen und südlichen Ukraine heute dar. In der Ostukraine entwickelt sich ein Stellungskrieg in Schützengräben wie man ihn aus den Erzählungen des Ersten Weltkriegs kannte: „In Stahlgewittern“. Und die Südostukraine mit Mariupol bietet der russischen Föderation nun die heiß begehrte Landbrücke zur annektierten Krim.

Völkerrecht gebrochen
Fast überflüssig zu erwähnen, dass damit so ziemlich alle völkerrechtlich bindenden Verträge gebrochen wurden: Die territoriale Integrität der souveränen Ukraine. Die Charta, das Grundgesetz der „Vereinten Nationen“, wonach Krieg nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs als Mittel der Politik ausgedient habe. Die Schutzbestimmungen, als die Ukraine – Ironie der Geschichte – in den 1990er Jahren auf seine atomare Bewaffnung verzichtete im festen Glauben, der „Bruderstaat Russland“ werde es sicherlich immer beschützen. Der politische Raum konnte vorgewarnt sein. Spätestens seit der ebenfalls völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 musste klar sein, wes Geistes Kind die autokratische Führung der russischen Föderation derzeit darstellt. Und es fehlte auch nicht an vorsichtigen Reaktionen. Ich erlebte die Krim-Krise 2014 im politischen Berlin als ein Erdbeben. Die Streitkräfte wurden sukzessive umgebaut von einer Einsatzarmee
(Afghanistan, Mali, Kosovo) in eine Bundeswehr, die wieder primär für die Landes- und Bündnisverteidigung steht. Der Etat der Bundeswehr stieg von damals etwa 30 Milliarden Euro auf nun über 50 Milliarden.

Krieg auf europäischem Boden
Und dennoch schien es schlicht unvorstellbar, dass die russische Föderation jemals wieder in einen „Panzerkrieg“ eintreten würde wie man ihn zuletzt auf europäischem Boden 1945 erlebt hatte. Der „moderne“ Krieg sollte doch asymmetrisch und gleichsam „clean“, sauber, sein. Von Drohnen geführt und vor allem mit Luftwaffe oder Marine. Der verlustreiche Krieg mit Artillerie schien den postheroischen Gesellschaften (Herfried Münkler) als nicht mehr politisch darstellbar. Man hatte sich
getäuscht. Als nach dem 22. Februar 2022 – das Datum kann man nicht vergessen – nach 48 Stunden die ersten russischen Panzerverbände auf Kiew zurollten, ging eine Schockwelle quer durch die westliche Welt. In Windeseile mussten ganze Weltbilder revidiert werden. „Wandel durch Annäherung“, „Wandel durch Handel“, die Friedensdividende seit den 1990er Jahren schienen plötzlich obsolet. Die enorme Abhängigkeit Deutschlands von der Erdgastankstelle Russland wurde zum „Klumpenrisiko“, dem kaum kurzfristig beizukommen war. Disruption, plötzliche,
radikale Veränderung nennt man das.

Friedensethik in der Kritik
Neben dem politischen Raum traf es aber auch die Zivilgesellschaft und mit ihr die Kirchen. Alles, was bis dahin selbstverständlich erschien, etwa der stehende Satz: „Keine Lieferung von Waffen in Kriegs- und Krisengebiete“, stand unmittelbar auf dem Prüfstand. Und mit solchen Spannungsfeldern standen plötzlich die ganze kirchliche und damit auch die evangelische Friedensethik in der Kritik. Wie gut, dass beide große Kirchen in Deutschland da sehr solide vorgearbeitet hatten. Die römisch-katholische bereits Ende der 1990er Jahre, die evangelische in der (viel zu kurzen) Ratspräsidentschaft eines Wolfgang Huber. Angesichts der Balkankriege, von „Nine Eleven“, dem 11. September 2001, und den folgenden Irak- und Afghanistan-Kriegen musste die Evangelische Kirche einen neuen, umfassenden Aufschlag zur Friedensethik liefern. Und das tat sie mit Verve. Die inzwischen legendäre „Friedensdenkschrift“ vom Oktober 2007 „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ stellt ein Musterbeispiel in der reichen Tradition der Denkschriften dar. 15 Jahre später liest sie sich wie für die heutige Zeit geschrieben.

Öffentliche Verantwortung
Dass dies gelang war freilich gedankt einer seltenen Konstellation von Denkerinnen und Denkern des Protestantismus, die sich in der „Kammer für öffentliche Verantwortung“ damals versammelten. Angefangen beim Vorsitzenden, Wilfried Härle, über Eva Senghaas-Knobloch, Johannes Fischer, Christine Lieberknecht, Hans-Richard Reuter: über 20 noch heute prominente Namen des Protestantismus, die im harten Ringen dieses Werkstück verfassten. Schade, dass es gedruckt kaum noch greifbar ist, sondern nur noch online verfügbar.

Leitbild des „Gerechten Friedens“
Auf gut 100 Seiten wurde die evangelische Friedensethik vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Leitbild des „Gerechten Friedens“ wurde entwickelt ohne die bisherigen, hilfreichen Kriterien des gewaltbegrenzenden Modells des „gerechten Krieges“ außer Kraft zu setzen. Wem selbst 100 Taschenbuchseiten zu lang sind, der möge nur die Ziffern 100 ff. lesen. Das Grundprinzip der sogenannten „rechtserhaltenden Gewalt“ – Wolfgang Huber spricht heute gerne von „rechtserzwingender Gewalt“ – wurde darin stringent begründet und eingepreist. Leider konnte die kurze Synodenstellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2019 an dieses Maß von Differenzierung naturgemäß nicht mehr anschließen.

Friedensdenkschrift auf der Höhe der Zeit
Was die evangelische Kirche also angesichts der Verheerungen in der Ukraine nicht braucht ist eine neue Friedensethik. Sie braucht schlicht eine Relektüre der vorhandenen Friedensdenkschrift, die voll auf der Höhe der Zeit ist und nur an sehr wenigen Punkten ergänzt werden müsste. Dazu hat der Grundlagenprozess der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) in Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Friedensarbeit unter dem Friedensbeauftragten Renke Brahms und der Soldatenseelsorge wertvolle Anregungen gegeben: in 18 kleinen Bänden zu leider kaum erschwinglichen Preisen. Selten also hatte der Protestantismus mit Synode und Rat der EKD an der Spitze so gute Grundlagen, auf denen es sich trefflich aufbauen lässt. Der Diskurs um eine stimmige Friedensethik – er ist wieder voll entbrannt.

SR

Ansprechpartner

Dr. Sigurd Rink
Stellvertretender Präsident des Evangelischen Bundes