Das Projekt begann am 29. April 2017: Ein Studientag gab den Startschuss für freiheit2017.net. Wir diskutieren mit Vertretern aus unterschiedlichen Wissenschaften und Lebensbereichen, was Freiheit für uns heute 500 Jahre nach Martin Luther bedeutet oder bedeuten kann (Programm Studientag).

Ab dem 1. Mai 2017 stellten wir regelmäßig einen neuen Absatz von Luthers einflussreicher Schrift “Von der Freiheit eines Christenmenschen” online (Text hier).

Eine interaktive Umfrage fragte nach den Gedanken der Seiten-Besucher zu Luthers Text und stellte diese dar. Diese Elemente des Projekts sind aus technischen und rechtlichen Gründen nicht mehr verfügbar.

Mitarbeitende aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen kommentierten die Abschnitte. Es entstand ein vollständiger Kommentar der Luther-Schrift. Diese haben wir untenstehend dokumentiert.


Kommentare (Bezugstext hier)


1-2

Luther geht hier gleich aufs Ganze: Es geht ihm um die Freiheit des Menschen, aber nicht um irgendeine! Es ist nicht die Freiheit zu tun und zu lassen, was ich will, die Freiheit zu reden, zu schweigen oder Grenzen zu überschreiten. Luther beschreibt keine Freiheiten, sondern er gibt an, woher die Freiheit komme: Jesus Christus. Durch diese geschenkte Freiheit sollen wir dann ganz grundsätzlich erkennen können, nicht was ein Mensch, sondern „was ein Christenmensch sei“. Ein Christenmensch? Geht es Luther also gar nicht um die Freiheit überhaupt, sondern nur die, welche mit Christus zu tun hat, und auch nicht um alle Menschen, sondern nur um diejenigen, welchen Christus Freiheit geschenkt hat? Ja, so steht es im Text. Trotzdem, so meine ich, geht es hier um die Freiheit für jeden Menschen. Luther schreibt in der Vergangenheit, dass Christus die Freiheit schon „erworben und gegeben hat“. Sie ist, wenigstens als Angebot, für jeden Menschen da. Ein Christenmensch, könnte man sagen, ist jeder Mensch, weil ihm dieses Angebot durch Jesus Christus gemacht ist.

Gleich mit dem zweiten Satz schränkt Luther meine Freude über diese Freiheit aber gleich wieder ein: Ein „freier Herr“ will ich schon sein, aber auch „ein dienstbarer Knecht“? Die widersprüchliche Aussage wird nicht weiter erklärt, allein gut reformatorisch mit Bibelstellen belegt. Das liegt daran, dass hier gerade das Problem liegt, das im Folgenden bearbeitet werden soll. Es sind eben „Beschlüsse“, also Ergebnisse einer Untersuchung, die wir noch vor uns haben – in den nächsten Absätzen der Freiheitsschrift.

Ein paar Hinweise, wohin die Reise führen wird, finden sich aber schon in diesem Absatz: Ein Herr kann ich nur über andere, ein Knecht nur unter einem Herrn sein. Frei oder unfrei, der Mensch ist immer in einer Beziehung, in einer Gemeinschaft. Im Alltag hat die Freiheit aber immer Grenzen, wo die Freiheit des anderen anfängt, wo ich mich, etwa in der Uni oder im Betrieb, einer größeren Organisation unterordnen muss. Bei Luthers Vorstellung von Freiheit und Knechtschaft ist das ganz anders und viel radikaler: Freiheit gibt es nicht in Teilen, sondern nur „über alle Dinge“, die Knechtschaft ist gleichermaßen total. Dies gilt für die Menschen und sogar für Gottes Sohn (siehe die Angabe von Gal. 4,4). Mehr Spannung als diese kann man kaum in den Anfang eines Aufsatzes legen.

Die Herrschaft über alle, die absolute Knechtschaft unter allen – das kann auf den ersten Blick nicht gleichzeitig wahr sein. Doch genau das behauptet der Text im zweiten Absatz. Wie der Mensch durch Christus (nach Röm 5,12-20) zugleich alt und neu, ungerecht und gerecht ist, so ist er, nach Luther, auch unfrei und frei zugleich. Vom Freisein wie vom Knechtsein können wir, so Luther, erst reden, wenn wir von Jesus Christus reden. Passt das zu unserer modernen Idee von Freiheit?

jakob@​freiheit2017.net

Jonathan (jonathan@​freiheit2017.net) empfiehlt folgenden Lesestoff:

  • Christine Axt-Piscalar / Mareile Lasogga (Hg.) im Auftrag der VELKD: Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers, Leipzig 2015.
  • Martin Laube (Hg.): Freiheit, Themen der Theologie 7, Tübingen 2014.
  • Markus Mühling (Hg.): Gezwungene Freiheit? Personale Freiheit im pluralistischen Europa, Göttingen
  • Birgit Recki: Freiheit, Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte, Wien 2009.

3-4

Nach seiner Doppelthese von letzter Woche geht Luther jetzt auf den inneren und den äußeren Menschen ein. Und das ist ganz schön krass, was er hier sagt: Selbst als Gefangener, als Kranker oder Leidender nimmt der Mensch keinen Schaden an seiner Seele, nimmt er sie nicht gefangen. Da frage ich mich schon: Ist das so? Hat nicht die Psychologie herausgefunden, dass gerade auch die Beschränkung von äußerer Freiheit, sei es durch Gefangennahme, sei es durch Krankheiten, Auswirkung auf den inneren Menschen hat und seiner Seele schaden kann?

Doch halt, damit bin ich, glaube ich, auf dem falschen Dampfer: Es geht Luther hier nicht um das moderne, psychologische Seelenverständnis; er meint mit Seele, mit dem inneren Menschen den Mensch in seiner Beziehung zu Gott. Und auf diese Beziehung haben äußere Umstände keinen Einfluss. Also egal, ob jemand gefangen ist oder krank – und hier könnte man jetzt sicher auch im Sinne Luthers psychische Krankheiten nennen – hat das keinen Einfluss auf das Gottesverhältnis. Aber das heißt im Gegenzug auch: Auch wenn es mir äußerlich gut geht, also materiell, gesundheitlich, gesellschaftlich, macht das mein Inneres nicht gut oder frei oder fromm. Und alles, was ich äußerlich tue, hat auf diese Gottesbeziehung keinen Einfluss: Gute Werke, Wallfahrten, ja selbst beten.

Aber ist das heutzutage überhaupt noch ein Thema, dass man durch Gutes, das man tut, glaubt, vor Gott besser zu sein? Ich würde sagen: Ja und nein. Nein, weil ich nicht glaube, dass ein Bonuspunkte-Sammeln bei Gott heute für viele noch eine Bedeutung hat – vielleicht noch theoretisch, aber nicht mehr praktisch. Ja, weil an Gottes Stelle heute meiner Meinung nach eine andere Instanz getreten ist: das eigene Gewissen. Wenn ich mir zum Beispiel aus schlechtem Gewissen, etwa weil ich aus meiner Trägheit mal wieder zu viel billiges böses Fastfood konsumiert habe, extra deswegen die teuren Bio- und FairTrade-Artikel kaufe, um mich aus diesem schlechten Gewissen quasi freizukaufen, um mal ein ganz alltägliches Beispiel zu nennen. Und das ist genau der Punkt, den Luther angreift: Wenn Gutes nämlich nicht um des Anderen Willen getan wird, sondern nur, um sich selbst gut und frei zu fühlen.

Ich bin gespannt auf Eure Kommentare!

jonas@​freiheit2017.net


5-7

Nachdem wir im letzten Artikel erfahren haben, dass es einen inneren und äußeren Menschen gibt, und das äußerliche Wohlergehen keine Auswirkungen auf die innere Freiheit hat wird Luther nun etwas konkreter. Das Innere des Menschen, seine Seele, ist einzig und allein an das Wort Gottes, an das Evangelium gebunden.

Das Wort Gottes ist das Einzige, auf was die Seele nicht verzichten kann, es ist die notwendige und hinreichende Bedingung zugleich. Dieses ruft Luther vor allem dem Klerus ins Gedächtnis, der im Verdacht steht, das Äußere höher zu gewichten als die Botschaft des Evangeliums.

Das Evangelium ist für ihn inhaltlich die Predigt von Jesus Christus (und zwar Genitivus subiecticus u. obiectivus) und damit der Glaube. Der Mensch ist verdorben, die Rede Jesu Christi hingegen ist befreiend. Christi „tröstliches“ und „lebendiges“ Wort ruft den Menschen aus seinem Verderben heraus und ruft geleichzeitig zum Glauben an ihn. Nicht aus sich selbst heraus, sondern allein im Vertrauen auf Christi Wort kann der Mensch sein Verdorbensein überwinden.

Allein aus dem Glauben heraus kann der Mensch gerecht werden. Im Zusammenhang von Gesetz und Evangelium heißt dies, dass nicht das Erfüllen der Gesetze, sondern allein der Glaube gerecht macht.
Brauche ich dann gar keine Gesetze mehr erfüllen? Gar keine guten Werke mehr tun??

Ich freue mich auf Eure Kommentare…

alex@​freiheit2017.net


8-10

In den Abs. 8 bis 10 präzisiert Luther seine Gedanken zum Freiheitsbegriff und führt ihn zu einem vorläufigen Abschluss. Dazu verschränkt er die beiden großen Teile der Bibel mit der in den Abs. 5 bis 7 zur Sprache gekommenen Rechtfertigung aus Glauben, indem er AT und NT voneinander scheidet und ihnen zugleich eine soteriologische Funktion beimisst: Das Alte Testament wird von Luther vorzugsweise als „Gebot oder Gesetz Gottes“ betrachtet, während das Neue Testament Gottes „Verheißung oder Zusage“ zum Ausdruck bringt.

Damit bringt Luther die in der Rezeption klassisch gewordene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ins Spiel: Das im Alten Testament niedergeschriebene Gesetz beinhaltet die Anforderungen Gottes an den Menschen. Die göttlichen Gebote kann der Mensch aber nicht erfüllen. Deshalb dient das Gesetz – in theologischer Hinsicht – dazu, dem Menschen seine eigene Mangelhaftigkeit zu spiegeln und ihn der Sünde zu überführen (usus elenchticus legis). Mit eigenen „gute[n] Werke[n]“ kann er diesen Zustand nicht überwinden. Die Folge ist, dass der Mensch „an sich selbst […] verzag[t]“.
In diese Situation der Niedergeworfenheit spricht Gott dem überführten Menschen sein „andere[s] Wort“ zu: die im Neuen Testament dokumentierte Zusage und Verheißung, das Evangelium. Dieser Zuspruch transferiert den Menschen aus einem trostlosen in einen hoffnungsvollen Zustand. Denn im Evangelium begegnet er Christus. Der Glaube an Christus, erlöst ihn aus seinem elenden Zustand und beinhaltet sogar die Erfüllung des ganzen Gesetzes. Gesetz (AT) und Evangelium (NT) haben also für Luther primär eine soteriologische Funktion: Es geht um nichts anderes als um das (ewige) Heil des Menschen.

Wichtig ist Luther dabei stets, dass es Gottes alleinige Souveränität ist, einerseits sowohl die Forderungen des Gesetzes als auch die Verheißung des Evangeliums aufzustellen und andererseits den Menschen sowohl in den „überführten“ als auch in den „seligen“ Zustand zu versetzen: „[Gott] befiehlt allein, er erfüllt auch allein.“ Deshalb ist die von Luther aufgezeigte soteriologische Dynamik allein auf Gottes Gnade zurückzuführen.

Wird man von Gott aber in den Status des Glaubens bzw. des Heils überführt, so spielt das Gesetz keine soteriologische Rolle mehr. Die Gebote verlieren ihre Heilsrelevanz. Denn der Glaube an Christus reicht aus und ist sogar das einzige Heilsmedium. Dies wird nun mit dem Freiheitsbegriff verknüpft: Wenn das Gesetz für den Menschen keine soteriologische Bedeutung besitzt, dann ist er von der Befolgung der Gebote – von Gesetz und Werken – befreit. Luthers Freiheitsbegriff ist deshalb vor allem theologischer, genauer soteriologischer Natur: „Das ist die christliche Freiheit, der eine Glaube, der nicht macht, dass wir müßiggehen oder übeltun, sondern dass wir keines Werkes bedürfen, um Güte und Seligkeit zu erlangen“.

Der (Christen-)Mensch wird durch Gott in Christus zur – religiösen – Freiheit befreit! Mit Bezug auf den Kontext beinhaltet dies auch die Freiheit von Kirchen und Ämtern als Heilsanstalten. Luthers Freiheitsbegriff ist demnach dezidiert theologisch-religiös begründet.

Gregor Bloch (gregor@​freiheit2017.net)

Einführende und weiterführende Literatur:

  • Dietrich Korsch: Erläuterungen, in: Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (Große Texte der Christenheit 1), hg. u. komment. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2016, S. 74-164; bes. S. 89-121.
  • Rochus Leonhardt: Grundinformation Dogmatik, Göttingen ⁴2009, S. 334-343.
  • Das Bibellexikon WiBiLex zu „Gesetz und Evangelium – Evangelium und Thora“.

Der Genfer Reformator Johannes Calvin (1509-1564) misst dem Gesetz noch eine andere theologische Bedeutung zu. Dieser sogenannte „dritte Gebrauch“ des Gesetzes hat in großen Teilen des reformierten Protestantismus bis heute eine Bedeutung:

  • Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion.  Institutio Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe v. 1559 übers. und bearb. V. Otto Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 186-192; bes. 190f. (Onlineausgabe der Auflage von 1955/1997)

Eine alternative Position zu Luther:

  • Karl Barth: Evangelium und Gesetz, in: Theologische Existenz Heute 32 (1952), S. 1-30.

11-13

Allein auf den Glauben und nicht die Werke machen den Menschen in den Augen Gottes gut, gerecht, selig und frei – das hatte Luther bereits in vorherigen Abschnitten behauptet. Aber warum eigentlich? Was ist es, das den Glauben so bedeutsam macht und vor allen Werken auszeichnet? Auf diese Frage geht Luther in den Abschnitten 11 bis 13 in immer neuen Bildern und Begründungen ein.

Zunächst greift Luther ein Alltagsbeispiel aus dem zwischenmenschlichen Miteinander heraus: Man erweist einem anderen Menschen Ehre, man respektiert, schätzt und achtet ihn, wenn man ihn für vertrauenswürdig hält. Ebenso ist es mit dem Glauben: Wer Gott glaubt, der zeigt, dass er ihn für vertrauenswürdig und ehrbar erachtet. (PS: Mit „vertrauenswürdig“ wird hier das Wort „frum“ wiedergegeben; dazu siehe den Blogbeitrag fromm = fromm?)

In Abschnitt 12 wechselt Luther zum Bild der Ehe. Bis heute ist es faktisch so, dass die meisten Ehen zwischen Personen geschlossen werden, die ganz gut zueinander „passen“ (hinsichtlich Bildungsgrad, soziale Herkunft etc.). Zu Luthers Zeiten hatte eine Ehe natürlich standesgemäß zu sein. Doch die Ehe zwischen Christus und dem Menschen – mit dem Glauben als Ehering – ist das genau Gegenteil: Eine Ehe zwischen dem höchsten König und einer verachteten Hure (ja, damit sind wir gemeint). Der „Nutzen“ der Ehe besteht in der Gütergemeinschaft: Was mein ist (Schuld, Versagen, Sünde), ist sein (und wird vernichtet). Und was sein ist (Gerechtigkeit, Freude, Seligkeit), ist mein (und wird erhalten).

Schließlich geht der 13. Abschnitt auf die (zehn) Gebote Gottes ein – hier sind doch nun wirklich Werke gefordert, oder? Aber wie Luther ausführlich in seiner Auslegung der 10 Gebote („Von den guten Werken“) dargelegt hatte, die wenige Monate vor der Freiheitsschrift erschienen war: Die einzelnen Gebote werden nur dann erfüllt, wenn bei und in allen anderen auch das erste Gebot erfüllt wird, an dem alle anderen hängen. Und dieses erfüllt allein der Glaube, nämlich Gott als Gott anzuerkennen.

Luther kombiniert verschiedene Zugänge und Bilder, um darzulegen, was der Glaube ist und warum ihm dieser so wichtig ist: Die zwischenmenschliche Glaubwürdigkeit, die Ehe und das Erfüllen der Gebote. Würdet ihr sagen, das ist ihm gelungen? Was fasziniert euch an den Beispielen und was befremdet euch? Welche anderen Vergleiche und Veranschaulichungen würdet ihr wählen, um den Glauben zu erklären?

jonathan@​freiheit2017.net


14

Schon Luther muss am Anfang seines Textes die biblischen zeitlichen Hintergründe erklären, bei uns ist das noch nötiger: Denn der erste Sohn hat heute – zu Recht! – nicht mehr die Bedeutung, die er zu Luthers Zeiten oder gar zu biblischen Zeiten hatte. Die Gleichberechtigung ist, wenn auch noch nicht vollkommen, vorangeschritten und die Unterschiede, die zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Töchtern und Söhnen gemacht werden, werden geringer. Dass der Erstgeborene Herrscher und Priester über die anderen Kinder sei, ist heute auf jeden Fall nicht mehr vorstellbar. Aber kann man das Bild des Erstgeborenen auch heute noch produktiv auf Christus beziehen? Zunächst auf jeden Fall so, dass Jesus Christus dadurch unser Bruder, wir seine Geschwister sind. Und vielleicht auch so: Eine Erfahrung in vielen Familien ist, dass der oder die Erstgeborene zunächst mal gewisse Rechte erstreiten muss, die die Geschwister dann meist automatisch auch bekommen. Christus also als der große Bruder, der uns Gerechtigkeit und Leben erstreitet? Das Bild ist nicht ganz perfekt, aber vielleicht ein bisschen anschlussfähiger.

Aber dann sind da ja auch noch die beiden anderen Bilder, auf die Luther mit dem Erstgeborenen eigentlich hinsteuern will: König und Priester. Auch das sind Bilder, die heute eher schwerfallen: ‚König‘ wird verbunden mit Prunk und Absolutismus, sicher auch Würde und Macht, aber doch eher mit veralteten Strukturen. Für Luther hingegen waren sie Teil seiner Lebensrealität. Und Priester waren ebenfalls auf einem höheren Stand, nicht nur aufgrund ihres Wissens, sondern gerade auch aufgrund ihrer Weihe, die sie vom Rest unterschied.

Mit diesen Bildern beschreibt Luther nun die besondere Stellung Christi. Aber er benennt das noch genauer: Nicht in irdischen, weltlichen Dingen ist Christus König und Priester, sondern in geistlichen; obwohl das das Weltliche miteinschließt. Das bedeutet, dass nicht das, was weltlich von Wichtigkeit ist, also König zu sein oder heutzutage etwa Präsident des mächtigsten Staates, sondern die geistlichen Güter das sind, was die Herrschaft Christi ausmacht. Er betont dabei, dass das die wahre Ausübung des Priesteramtes ist. Warum? Weil Luther zu seiner Zeit erfahren musste, dass viele Priester und Kirchenfürsten sich wie weltliche Herrscher aufführten und dabei oftmals ihre seelsorgerlichen Aufgaben vergaßen. Hier muss er also das Bild vom Priester für seine Zeitgenossen wieder gerade rücken: Christus ist Priester, aber nicht so, wie ihr es um euch herum seht, sondern so, wie es wirklich sein sollte!

Luther redet in vielen Bildern von Gott und von Christus. Das ist auf jeden Fall hilfreich, vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, von Gott sprechen zu können; dabei besteht aber immer das Problem, dass Bilder sich verändern oder veralten können. Wie sehen wir das heute? Können wir Christus heute noch als Erstgeborenen bezeichnen? Als König oder als Priester? Und wenn nicht, was wären Bilder, die heute besser passen?

Ich freu mich auf Ihre und Eure Kommentare!

jonas@​freiheit2017.net


15-17

Erstgeborener Gottes, dadurch König und Priester: Luther zeichnete im letzten Abschnitt ein überaus machtvolles Bild von Jesus Christus. Dass diese Funktionen „geistlich verstanden“ werden sollen verstärkt den Eindruck noch: Indem der Erlöser herrscht, sich opfert und lehrt wirkt er „im Himmel, auf der Erde und in der Hölle“. Bei einem solchen Bild fallen mir Darstellungen von Christus als „Allherscher“ (griechisch: Pantokrator) ein, wie sie zum Beispiel in der Basilica S. Pudenziana in Rom abgebildet sind: Christus sitzt erhöht, im goldenen Gewand, darunter die Gläubigen.

Ein Bild, das eine klare Hierarchie zu zeigen scheint, wie das „Top-Down-Management“ in einem traditionellen Unternehmen. Der Chef leitet von oben herab, die Untergebenen haben seine Weisungen zu empfangen, direkt von ihm oder von mittleren Vorgesetzten. Desto aufregender ist die Passage aus dem ersten Petrusbrief, mit dem Luther den Textabschnitt dieser Woche einleitet: Könige und Priester sind auch die Christen!Die gerade so eindrücklich beschriebene Macht Jesu, welche „geistlich verstanden“ die Welt überschreitet, an dieser bekommen die Gläubigen Anteil.

Das ist keine simple Oben-Unten-Strukur mehr; statt einer Hierarchie entsteht das Bild einer Gemeinschaft, in der Herrschaft nicht mehr gleichbedeutend mit Gewaltausübung ist. Indem Christus herrscht, macht er erst die Gläubigen mächtig und unabhängig von irdischen Zwängen; indem er selbst Priester ist, erlaubt er ihnen direkt vor Gott zu treten, ohne sich der Herrschaft selbsternannter irdischer Priester beugen zu müssen.

„Siehe, was ist das für eine wertvolle Freiheit und Macht der Christen!“ Kann ich mich dem uneingeschränkt anschließen? Missbrauchte Macht, Tod und Leid gibt es weiter in der Welt, wie Luther auch zugesteht. Das Leben erscheint immer mangelhaft, endlich, defizitär. Luther schlägt demgegenüber, mit Blick auf Christus, eine radikal andere Perspektive vor: im Glauben kann der Christ aus dem „Überfluss“ (Absatz 16) schöpfen. Er muss sich nicht als als Unterworfenen sehen, sondern er ist befreit, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Das Endliche ist gerade der Bereich, wo ihm die geistliche, und damit auch vom Tod nicht begrenzte Herrschaft Jesu Christi begegnet.

Luther denkt sich seine flachen Hierarchien von der Wurzel her, also radikal (von lateinisch radix = Wurzel): Gerade weil Christus an der Spitze steht ist irgendeine Form von ‘mittlerem Management’ zwischen ihm und den Gläubigen nicht zugelassen. Der Vorsitzende versetzt seine Untergebenen sogar ein Stück weit in seine eigene Position: sie werden durch den Glauben „auch alle Könige und Priester“ mit ihm und dadurch, wie er, nicht nur „aller Dinge mächtig“, sondern sogar „Gottes mächtig“. Das ist kein Fehler in unserer Übertragung des Textes, sondern so skandalös, wie es dasteht: „Das Priestertum bedeutet Macht über Gott“, bestätigt ein aktueller Kommentar zur Freiheitsschrift (s. 216). Ist das möglich? Oder liegt unser Reformator hier einfach falsch?*

jakob@​freiheit2017.net


18

Was Luther hier schreibt, ist eine Predigtlehre im Hosentaschen-Format – im klassischen Dreischritt: zuerst muss geklärt werden, wie man es nicht macht. Danach wird entfaltet, wie man es richtig macht – und zum krönenden Abschluss gibt es einen Ausblick darauf, was passiert, wenn man es denn richtig gemacht hat.  Und wenn man es das erste Mal liest, dann kommt es einem doch ganz schlüssig vor: wer will denn, wenn er Sonntags früh zur Kirche geht, einen trockenen Lehrvortrag über den „Historischen Jesus“ hören – oder gar eine der so berüchtigten wie häufigen Moralpredigten? Es ist schon richtig:  wenn ich zur Kirche gehe, dann erwarte ich das Wort, das mich trifft – was Christus „mir gebracht und gegeben hat“. Selbst dann, wenn ich gerade nicht von Selbstzweifeln und Höllenangst geplagt die Frage nach dem gnädigen Gott stelle: was das alles mit mir zu tun hat, wäre schon gut zu wissen.

Aber das ist eine rhetorische Binsenweisheit. Schon Cicero hat es den Römern eingebläut, dass die Zuhörer einer Rede wissen wollen, warum sie das etwas angeht, und was es sie angeht, was sie da hören. Wie man das dann aber macht – das ist eine andere Frage. Und sie stellt sich für den Prediger jede Woche aufs Neue. Wie mache ich es denn jetzt, dass „der Glaube draus erwachse und erhalten werde“?

Der inzwischen verstorbene Rudolf Bohren, der lange in Heidelberg Homiletik lehrte, ist dieses Problem mit seinem Konzept von der „theonomen Reziprozität“ angegangen. Das klingt unglaublich kompliziert, liest sich aber logisch: wenn das, was Luther hier beschreibt, gelingt, dann ist das das Werk des Heiligen Geistes. Es ist ein Wunder, jedes mal aufs Neue, dass man „recht auslegt die christliche Freiheit“. Dieses Wunder geschieht aber ganz irdisch, durch den Mund eines Menschen. Er hat sich intensiv auf seine Predigt vorbereitet, bedient sich der besten rhetorischen Mittel – aber „dass der Glaub draus erwachse und erhalten werde“, ist und bleibt Gottes Werk. So wird das menschlich Machbare von Gott in den Dienst genommen, um das Wunder des Glaubens zu wirken: „wenn ein Herz so von Christus hört, dann muss es von ganzem Grund fröhlich werden…“

Aber entschärft das die Forderung Luthers nicht vorschnell? Ihm geht es an dieser Stelle nicht um das Wie, sondern um das Was. Existenzielle Ansprache statt moralinsaurer Belehrung: das ist christliche Predigt. Das kann man nicht oft genug sagen. Oder?

Tobias Jammerthal, Tübingen


19-20

Luther geht in diesen beiden Abschnitten der grundlegenden Frage nach, warum der Mensch überhaupt etwas Gutes tun muss. Ja, muss er das denn überhaupt? Nicht zu Unrecht wirft Luther den Einwand selber auf: Wir sind doch schon gerechtfertigt im Glauben ohne unser Tun, wozu dann überhaupt noch aktiv werden?

Diese Frage ist und bleibt höchst brisant und heikel. Entscheidet sich doch gerade in der Bewertung unseres Handelns, wie ernst es uns ist mit der Rechtfertigung alleine durch Glauben. Luther wagt es hier vor das Tun das Wörtchen „müssen“ zu setzen. Wir müssen etwas tun. Steht das nicht tatsächlich in eklatantem Widerspruch zu seiner Kernaussage? Gerät man nicht hier geradezu auf direktem Abweg wieder zu einer Theologie, bei der die Taten zwar dem Glauben folgen, aber eben folgen müssen und dadurch gewissermaßen durch die Hintertür eine nachgeschobene Voraussetzung der Rechtfertigung werden? Wie denn jetzt: Müssen wir für unsere Seligkeit arbeiten oder nicht?

Zwei Aspekten sollte in der Antwort Luthers auf diese Frage besondere Beachtung geschenkt werden. Jenseits seines vehementen Festhaltens an der alleinigen Rechtfertigung durch den Glauben auch in diesen Abschnitten hebt Luther hervor, dass auch der gerechtfertigte Mensch noch in der Welt steht. Der Mensch muss „seinen eigenen Leib regieren und mit Leuten umgehen“. Hier spricht kein Moralprediger, sondern die naturgegebene Notwendigkeit. Wir müssen uns, ob wir wollen oder nicht, verhalten zu der Welt, die uns umgibt. Selbst wenn wir nichts tun, verhalten wir uns ja schließlich zu ihr. Die Frage ist nun nur noch, was genau wir tun und wie wir es tun.

Gerade hier nun schafft es Luther, meiner Meinung nach, der moralischen Pflichtkeule auszuweichen. Was genau müssen wir tun? Wir müssen, auch hier wieder nicht aus Pflicht sondern aus Notwendigkeit, in Übereinstimmung mit uns selbst handeln. An den Taten des Menschen erkennt man nicht sein Wesen, aber sein Wesen hat dennoch erheblichen Einfluss auf das, was er tut. Wenn ich das tue, auf was ich Lust habe und was ich richtig finde, nur dann habe ich auch das Gefühl, etwas sinnvolles zu tun. Und ich bin unzufrieden, wenn ich gegen meine Überzeugungen gehandelt habe.

Was Luther, salopp formuliert, sagt: Sei du selbst und handle dementsprechend. Der Glaubende aber ist der Gerechtfertigte. Er hat innerlich Freude an Gott. Keine echte Freude kann man hinter dem Berg halten. Wer wirklich froh ist, könnte die Welt umarmen und wird es auch regelmäßig versuchen. Die Freude muss heraus und sich zeigen und zwar aus dem einfachen Grund, dass es ihrem Wesen entspricht.

Es geht Luther beim Handeln also weder um eine äußerlich aufgelegte Pflicht noch um eine völlige Planlosigkeit und Willkür. Es geht ihm um ein Handeln, das dem gerechtfertigten Menschen entspricht und ihn deswegen „fröhlich“ macht „und voller Lust um Christi willen“.

Reicht das? Kann man seine Handlungen wirklich anhand dieser Kriterien messen oder scheitert dieses Modell letztlich doch an seiner Unterordnung der Ethik und Moral unter die Rechtfertigung des Einzelnen? Wird hier nicht doch durch die Unterordnung des äußeren unter den innerlichen Menschen ein höchst moralisches Menschenbild propagiert? Diskutiert mit!

Lars, Tübingen


21-22

Und wieder geht es ums gute und richtige Handeln! Aber dieses Mal recht verwirrend: Die guten Werke machen nicht gut vor Gott, aber sollen gemacht werden, um Gott zu gefallen Wie ist das denn zu verstehen?

Schon im letzten Abschnitt ging es um das gute Handeln und wie Luther es befürworten kann, ohne die Moralkeule auszupacken. Aber das Thema lässt ihn nicht los und so behandelt er es auch hier. Erneut stellt er die Frage: Warum soll ich denn gut handeln? Ganz vehement lehnt er sofort wieder die Antwort ab, dass man dadurch vor Gott gut oder gerecht werden könnte: Das kann nicht sein, niemand kann aus eigenen Kräften gut oder gerecht werden, dies macht allein Gott in der Rechtfertigung. Also dann gar nichts tun? Auch das kann Luther so nicht stehen lassen und gibt daher zwei Antworten:

Zunächst spricht er davon, dass der Leib gereinigt oder sogar gezüchtigt werden solle. Was soll das denn? Keine Angst, hier steht keine körperfeindliche Ausrichtung dahinter, die alles Leibliche verdammt und nur auf Geistig-Geistliches aus ist, ganz im Gegenteil. Aber wie kommt Luther denn überhaupt darauf? Dazu muss man auf das Ende des vorherigen Abschnitts schauen, wo er 1. Kor 9,27 und Gal 5,24 zitiert. Dort wird nämlich vom Kreuzigen und Züchtigen des Leibes gesprochen, und Luther bezieht das – wie seine Zeitgenossen – auf Fasten und ähnliche Praktiken. Aber er ändert hierzu die Einstellung: Fasten und mönchische Enthaltsamkeit wurden nämlich als gute Werke angesehen, mit denen man sich quasi vor Gott extra Punkte auf seinem persönlichen Heilskonto verdienen konnte. Das lehnt Luther ab, er berichtet davon, dass manche wegen diesem ‚Heilskonto‘ ihren Leib bis zum Verderben quälen. Nein, sagt Luther, das muss nicht sein. Diese Werke, Fasten, Enthaltsamkeit, aber auch die ganz normale körperliche Arbeit, sind nicht dafür da, um sich irgendwie vor Gott verdient zu machen, sondern sie sind vielmehr für den Menschen da. Deshalb soll man sie auch nur soweit machen, wie sie gut für einen sind. Wenn Luther dabei den ‚Müßiggang‘, also das Nichtstun als Gegensatz zur Arbeit, verurteilt, dann nicht, weil er den Menschen zur ständigen Leistung antreiben will – nichts stände ihm ferner! Dadurch, dass er Adam mit in seine Überlegungen einbezieht, bringt er meiner Meinung nach zum Ausdruck, dass das Arbeiten zum Menschsein dazu gehört: Ohne Arbeit fehlt dem Menschen etwas. Aber auch hier gilt: Nur so viel arbeiten, wie es gut für einen ist.

Aber Luther bringt noch eine andere Begründung, die in meinen Augen viel wichtiger (wer fastet heute noch, um vor Gott gut zu werden?), aber auch etwas verwirrender ist: Er sagt, dass wir allein aus der Motivation gut handeln sollen, um Gott zu gefallen. Hat er nicht eben noch gesagt, dass man durch das Handeln nicht gut und gerecht vor Gott werden kann? Ist das nicht das gleiche?

Ist es nicht, würde ich sagen, auch wenn man das so verstehen kann. Deshalb eine Verdeutlichung an einem kleinen Beispiel: Wenn ich eine Person liebe, dann will ich ihr Gutes tun, nicht weil ich mir etwas von ihr erhoffe, sondern weil ich ihr eine Freude machen will. So ist es nach Luther auch bei Gott: Nicht um unsertwillen, dass wir gut vor ihm dastehen, soll man Gutes tun, sondern um seinetwillen, um ihm eine Freude zu machen. Denn alles Entscheidende ist schon getan, und zwar von ihm.  Natürlich gibt es auch in dem Beispiel die Gegenseite, dass man nämlich einer Person Gutes tut, um selbst etwas zurück zu erhalten, etwa Liebe. Aber dass dies nicht funktioniert, zeigt die Erfahrung: Denn Liebe lässt sich ebenso wenig erkaufen wie Gutsein oder Gerechtigkeit vor Gott.

Passiert es heute noch, dass gewisse Handlungen eher als Pflicht vor Gott verstanden werden als als eine Wohltat für einen selbst? Z.B. der sonntägliche Gottesdienst? Und läuft die Rede vom Handeln, um Gott zu gefallen, nicht wieder Gefahr, als Pflicht verstanden zu werden? Ich bin gespannt auf Kommentare und Anfragen!

jonas@​freiheit2017.net


23-25

Gute Werke, die Dritte: Wer war zuerst da, der gute Mensch oder die guten Werke?

Und weiterhin geht es Luther um die Werke, und zwar – das ist wichtig – immer noch hauptsächlich um die Werke, die man ‚sich selbst‘ tut, wie Fasten, Beten, enthaltsam Leben; schon in den letzten Abschnitten hat Luther dargestellt, dass man diese Werke erstens für sich selbst tut und zweitens zur Freude, nicht aber um vor Gott gut oder gerecht zu werden.

Nach diesen Zielen der Werke geht es ihm nun um die Ursache: Anhand der Bilder vom Baum und vom Zimmermann macht Luther deutlich, dass die guten Werke (die guten Früchte, das gute Haus) nicht die Ursache eines guten Menschen (Baums, Zimmermanns) sind, sondern umgekehrt: Die Werke sind nur die Wirkung, sie machen nicht jemanden gut, sondern sie werden von jemandem gemacht, der gut ist. So weit eigentlich alles ganz logisch.

Aber da kommen wir zum Problem: Woran erkenne ich denn, dass ein Baum ein guter Baum ist? Für mich als Mensch ist ein Baum dann gut, wenn er – richtig! – gute Früchte trägt. Und das macht das Ganze schwierig, denn vor anderen Menschen kann auch ein ‚schlechter Mensch‘ scheinbar gute Werke tun. Zum Beispiel, um mal ein heute relevanteres Bild als das Fasten zu nehmen, könnte es sein, dass jemand jeden Sonntag in den Gottesdienst geht. Die anderen Gemeindemitglieder, selbst der Pfarrer, meinen, er sei wohl ‚besonders gläubig‘. Nun kann es natürlich gut sein, dass es diesem Menschen wirklich einfach wichtig ist, jede Woche gemeinsam mit der Gemeinde den Gottesdienst zu erleben; es ist aber auch möglich, dass er es wegen des Ansehens macht. Den Unterschied, die Gesinnung, die dahinter steht, kann man als Mensch meistens nicht sehen. Deshalb würde ich im Zweifelsfall auch immer vom Besten ausgehen. Gott aber kann ins Innere schauen, sieht die Ursache, aus der heraus die Werke gemacht wurde, und weiß daher, ob es gute oder schlechte sind. Das heißt dann aber auch, dass andere Menschen gerade nicht über das Innere eines Menschen urteilen können. Und das heißt auch, dass ich mich selbst hinterfragen muss: Warum mache ich das eigentlich? Was ist meine Intention dahinter?

Denn, nicht nur vor anderen Menschen können solche Werke scheinbar gut sein, auch vor mir selbst: Es kann passieren, dass ich mir selbst einrede, dass ich faste, bete, in die Kirche gehe etc., um mir selbst einzureden, ich sei gut. Dabei geht es darum gar nicht. Natürlich ist mir klar, dass ich mir dadurch nichts ‚verdiene‘; aber vielleicht wirken diese Werke dann als Selbstbestätigung: Ja, ich bin gut, das sieht man ja an der Wirkung. Den guten Baum erkennt man als Mensch eben nur an den Früchten. Gerade da ist es wichtig, meine Intention zu hinterfragen: Warum mache ich etwas? Auch wenn es wirklich schwierig ist.

Kann man überhaupt so sicher herausfinden, warum man etwas macht? Ist es nicht einfacher, von der Wirkung auf die Ursache zu schließen? Und was ist, wenn ich etwas aus den besten Beweggründen mache, das dann aber schlechte Auswirkungen hat: Ist das dann gut oder schlecht? Ich freue mich auf Kommentare!


26-28

Grundgedanken dieses Abschnitts:
1) Der freie Dienst, den Christus „mir“ erwiesen hat, den erweise „ich“ als Christ anderen Menschen.
2) Auf diesem Weg wirkt Christus durch seine Gläubigen an anderen Menschen.
Wer Christus durch sich wirken lässt, wird einem anderen zum Christus.
3) Die Christen untereinander bilden eine Gemeinschaft, in der Christus in jedem und jeder wirkt. Jeder Christ begegnet den Wirkungen Christi in sich selbst, agiert sie aus und empfängt sie wiederum von anderen.

ZU 1) Christus lebt in der vollen göttlichen Freiheit, nichts zu müssen und alles zu können. Aber er erniedrigt sich selbst und begegnet uns „schlechten“ Menschen auf Augenhöhe. Christus geht den ersten und letzt-entscheidenden Schritt auf uns zu. Wir sind nicht in der Lage, aus uns selbst heraus wirklich „gut“ zu sein. Wir stehen in Gefahr, abzurutschen und weit entfernt von Gott unser Leben zu leben – und es am Schluss zu verlieren. Wir sind vor Christus in Not. Dass er uns aus freien Stücken dient – und macht und leidet, was er nicht machen und leiden muss, haben wir nötig. Unser Herz von selbst zu Gott hinwenden, könnten wir nicht. Christus macht sich für uns greifbar und angreifbar, um durch Zuwendung und Geduld unser Herz zu gewinnen und uns mit Gott zu versöhnen. In der Versöhnung, die er stiftet, erkennen wir, dass Gott es zutiefst gut mit uns meint und wir ihm voll vertrauen können – und tatsächlich vertrauen. Das heißt „Glauben“.

So findet ein Christ in seinem Glauben den vollen Lebensmut, das Vertrauen und die Zuversicht, dass es für ihn am Ende gut werden wird und Gott auch das Schlechte, das ihn bedrängt, ihm zum Guten dienen lassen kann. Er hat alles, was er für seine Seele zum Leben braucht und muss nichts dafür tun. In seiner Seele ist der Christ uneingeschränkt frei. Er muss für Gott nichts tun und kann seine Beziehung zu Gott gestalten, wie er/sie möchte. Eine Christin muss nichts und kann alles. Damit haben Christen „die Hände frei“.
Eine Christin lebt aber unter ihresgleichen mit anderen Menschen, Christen und Nichtchristen. Und hier begegnet ihr einige Not. Aus dem Überfluss den sie erfahren hat durch Christus, kann sie anderen geben und ihnen in der Not aushelfen. Dazu kann geistlicher und seelischer Beistand genau so gehören wie materieller und finanzieller Beistand, was immer die Not lindert. Mit seinen freien Händen kann der Christ an anderen handeln.

ZU 2) Da Christus als lebendiger Auferstandener ständig in einer Christin wirkt, sie ihn ständig nötig hat, bekommt sie im Glauben immer wieder Impulse, sich anderen Menschen zuzuwenden. Was Christus an ihr in Gutem wirkt, dringt durch sie nach außen zu anderen Menschen. Andere Menschen erfahren im Handeln eines Christen, was Christus möglich machen kann. Anderen zum Christus werden, kann bedeuten, gegen alle Erwartung den ersten Schritt auf jemanden zu zu machen, von dem es nichts zu erhoffen gibt. Es kann bedeuten, herzugeben, zurückzustecken, andere zu verteidigen, gegen Ungerechtigkeit den Mund aufzumachen – und mich dadurch angreifbar zu machen und selbst Risiken auszusetzen. Es kann bedeuten, mich mit denen auf eine Stufe zu stellen, die nichts können und nichts „wert sind“, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen: Knecht werden für andere, aus freien Stücken.
Wo so etwas uneigennützig geschieht, ist Christus selbst am Werk, weil er im Christen wirkt und immer wieder sein Herz von Angst und Sorge um sich selbst befreit. Durch die „freien Hände“ eines Christen wirkt Christus an den anderen Menschen. Daher kann Luther sagen, ein Christ wird einem anderen zum Christus.

ZU 3) In einer christlichen Gemeinschaft erfährt eine Christin die Form uneigennütziger Zuwendung, die sie selbst ausübt, und ein Christ arbeitet mit anderen zusammen, die wie er selbst da zupacken, wo Not ist. Auf diese Weise wirkt Christus in, durch und unter allen Christen und die christliche Gemeinschaft wird so zu einer Einheit, in der Christus „alles in allen“ wird.

Offene Fragen:

  • Wie weit geht das Knechtsein für andere?
  • „Funktioniert“ ein solches Leben, ganz für andere da zu sein, denn heute tatsächlich oder ist das Risiko der Selbstausbeutung zu hoch?
  • Wo erlebe ich eine christliche Gemeinschaft, in der ich das Gefühl habe, hier wirkt Christus durch die anderen und mich?
  • Habe ich einmal erwartet, eine solche Gemeinschaft zu finden, und bin empfindlich enttäuscht worden?

hanni@​freiheit2017.net


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Am Ende bündelt Luther seine Überlegungen:

  • Gute Werke sind Werke für den Nächsten. Wenn ich als Christ etwas tue, auch ein vermeintlich frommes Werk, tue ich nur dann Gutes, wenn es meinem Nächsten dient. Es kommt somit auf die Haltung an, aus der heraus ich etwas tue. Diese richtige Haltung wird durch den Glauben ermöglicht und geschult. Wer aber über den Glauben nicht recht Bescheid weiß, weiß nicht über die richtige Freiheit Bescheid und geht damit nicht mit der richtig geschulten Haltung an das Tun heran. En passant hält Luther ein kleines Plädoyer zugunsten eines evangelischen Bildungsideals: Um das Gute und Richtige zu tun, muss man auch etwas über den Glauben und die richtige Haltung wissen.Aber selbst mit dem entsprechenden Wissen über den Glauben und der Kenntnis der richtigen Haltung bleiben zwei Fragen: Weiß ich denn wirklich immer so genau, ob ich etwas für mich oder für andere tue? Und ist es wirklich per se und ständig von Übel, wenn ich etwas für mich tue?
  • Das Gute kommt von Gott, fließt durch den Glauben in uns und soll aus uns zum Nächsten weiterfließen. Für die Weitergabe des Guten verwendet Luther das dynamische Bild einer Flüssigkeit, die vom einen zum nächsten strömt. Wenn alle Christen ihren Nächsten das Gute, das sie von Gott erhalten, zufließen lassen, entsteht ein regelrechter Wasserkreislauf der Liebe. Bei diesem Weiterfließenlassen des Guten ist Christus der Maßstab. An ihm sollen wir uns orientieren, ja ihn nachahmen. Hier scheint das alte Motiv der imitatio Christi, der Nachahmung Christi, durch. Und diese Imitation geht so weit, dass ich wie Christus sogar die Sünde meines Nächsten auf mich nehmen soll. Da schraubt Luther den Anspruch wieder sehr hoch. Es ist damit zwar nicht gemeint, dass der Mensch dies von sich alleine schafft, sondern die Nachahmung zählt für Luther schon zu den guten Gaben Gottes. Die Frage, ob das nicht etwas viel verlangt ist, Christus nachzuahmen, erübrigt sich damit aber nicht sofort. Was, wenn ich mich selbst damit schuldig mache – wer hat dann was davon? Und steht die Aussage, die Sünde des Nächsten auf mich zu nehmen, wie Christus es für uns alle getan hat, nicht in der Gefahr, die Erlösung durch Christus am Ende doch wieder zu verschleiern und in die bloße Ethik aufzuheben? Oder ist diese Bedrohung durch die Rede vom Glauben genug abgesichert?

Zum Abschluss noch ein Bild: Christsein im Fahrstuhl. Vielleicht kein schlechter Vergleich für unsere Gegenwart (meine Bitte um Entschuldigung an alle, die Fahrstühle nicht mögen!): Man fährt nach oben, bis zur Aussichtsplattform des Wolkenkratzers; man fährt nach unten, bis ins tiefste Kellergewölbe; man bleibt aber immer in derselben Stahlkiste, gut geschützt, immer in Bewegung. So ist die Liebe. Ohne sie, ohne den Fahrstuhl, müsste ich laufen, mich abmühen auf den Treppen des Lebens, würde nie oben ankommen und hätte sicher keine Lust nach unten in den dunklen Keller, zur Not meiner Mitmenschen, abzusteigen. Die Liebe aus dem Glauben eröffnet mir neue Möglichkeiten; sie macht mich frei, alles zu erreichen.

Wie geht es Euch und Ihnen nach Luthers 30 Artikeln zur christlichen Freiheit?
War das alles verständlich – oder gibt es mehr Fragen denn je?

sven@​freiheit2017.net