Gottes Geist – ein Geist mit Narben
In diesem Jahr feiern wir Pfingsten, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes, bewusster, inniger, dankbarer. Weil wir Gottes Geistkraft, seine heilende, tröstende, erneuernde und verwandelnde Gegenwart, intensiver erbitten – in den von Krankheit und Entbehrung geprägten Wochen, in denen zugleich die leise Hoffnung aufkeimt, die dritte Corona-Welle sei zumindest gebrochen.
Jetzt sind sie spürbar: die starken Symbole, die uns über Grenzen und Zeiten hinweg zusammenschließen, mit Gott und untereinander verbinden. Es ist ja eine merkwürdige, fast paradoxe Situation, in der wir uns seit 15 Monaten befinden: Der direkte Kontakt, die Umarmung, die körperliche Nähe, die wir doch als stärkstes Zeichen der Liebe kennen, ist zum Feind der Liebe geworden. Darum halten wir Abstand, körperlich und räumlich, und sind doch miteinander verbunden. Äußere Distanz aber führt keineswegs notwendig zu sozialem Abstand, ganz im Gegenteil. Wir halten uns körperlich voneinander fern, gerade um sozial miteinander verbunden zu sein. Wir tauschen uns aus in vielfältigen digitalen Formaten, die in den letzten Monaten für viele von uns fast selbstverständlich geworden sind.
„Sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt“, heißt es in der Apostelgeschichte (2, 4). Göttliche Kraft fließt in menschliche Leiber. Und sie inkarniert sich bis heute. Berührt das Herz, berührt unser Innerstes, und rüttelt das Beste wach, was in uns steckt.
Gerade angesichts der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit, der Zerbrechlichkeit menschlichen Daseins, die die Corona-Pandemie uns so unübersehbar vor Augen führt, erfahren wir, wie in ihr die Liebe an Raum gewinnt. Die aufrichtende Energie des Guten. Menschen geben seit mehr als einem Jahr ihr Äußerstes: in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Kitas und Schulen, in Familien und Supermärkten – und in der Politik. In der Zuwendung zu verletzlichem und gefährdetem Leben spüren wir, wie wirksam und heilend die Kräfte sind des Beistands, der Unterstützung, der Hilfe. Und gleichzeitig bitten wir um Trost für die Kranken und Trauernden, um Kraft für alle, die jetzt für Andere sorgen. Auch finden sich Menschen, die danken. Danken für erfahrene Hilfe und Solidarität. Und die im Lob Gottes trotzig die Radikalität des Angewiesenseins auf seine Geistkraft aussprechen. Sie alle tun das auch stellvertretend für die, die in Krankheit und Trübnis die Zerstörung des Lebens erleiden, aber die Sprache des Glaubens nicht mehr finden.
Darin spiegelt sich die Hoffnung wider, dass die lauten und stummen Klagerufe am Ende nicht unbeantwortet bleiben. Sich Gott vielmehr allen Menschen und seiner gesamten Kreatur noch einmal schöpferisch zuwendet. Gerade auch denen, die wir in der jetzigen Krise so schnell zu vergessen drohen: denen, die unter Gewalt und Krieg, Vertreibung und Flucht, Armut und Hunger leiden. Es ist diese verwegene Hoffnung auf Zuwendung, die uns, wie Paulus sagt, „geduldig“ sein lässt „in Trübsal“ und „beharrlich im Gebet“ (Röm. 12, 12).
Auch das bekennen wir zu Pfingsten: Gottes Geist ist mit-leidend und mit-seufzend in seiner Schöpfung gegenwärtig, gerade, um den lebenszerstörenden Kräften standzuhalten, sie aus-zuleiden. Als Geist des gekreuzigten Jesus, als Geist des auferstanden Christus, dessen ewiges Leben die bleibend-offenen Wunden an sich trägt, als Geist Jesu Christi also ist er ein Geist mit Narben: verletzt, versehrt, vom Leid berührt. Darum schenkt er uns Geduld, Langmut, die Kraft des Da-bleibens bei denen, die nicht mehr aus noch ein wissen. Die sich in ihren vier Wänden einsam und abgeschnitten fühlen, die trauern um einen nahen Angehörigen, die keine Perspektive mehr sehen, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, wenn alles überstanden sein wird. Nicht fliehen, sondern bleiben: Bleiben bei denen, die in ihrer Not Kraft und Zuwendung brauchen, eben das bewirkt Gottes fürsorgender Geist.
Und: Er hilft, beharrlich zu beten. Ist doch das Gebet der Ort, wo ich vor Gott ausbreite, was mich im Innersten berührt – meine Sehnsucht, meine Wünsche, meine offenen Fragen. Im Gebet vollziehe ich diejenige Bewegung, die Martin Luther angefochtenen Menschen angeraten hat: Ich fliehe von Gott zu Gott. Von dem in den Wirrnissen und Nöten verborgenen, fernen, schweigenden Gott hin zu dem in Christus offenbaren, mitgehenden, nahen Gott. Und die Kraft, die diese Bewegung ermöglicht, ist der Atem, der Windhauch, hebräisch: „Ruach“, wie wir „Geist“ auch übersetzten können. Ein freier Atem, der weht, wo und wann er will, das ist der Gottesgeist. Pfingsten bedeutet daher Aufbruch. Aufbruch zu neuer, zu solidarischer, zu grenzüberschreitender Gemeinschaft. Durchweht, gestärkt und mit Mut beschenkt. Darum „komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein“!