Am Abend des 18. September 2021 ist einer der bedeutendsten evangelischen Theologen der Gegenwart, Christoph Schwöbel, im Alter von 66 Jahren im schottischen St. Andrews verstorben. Mit ihm, dem Systematischen Theologen und Religionsphilosophen, verliert die Evangelische Kirche und die akademische Theologie eine national wie international hoch geschätzte Persönlichkeit. Auch stellte er sich als Vortragender und Diskussionspartner immer auch seiner Kirche und der Ökumene zur Verfügung: etwa als an den Lehrgesprächen im Auftrag der Leuenberger Kirchengemeinschaft Beteiligter und als Experte im Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen. So sprach er häufig über den religiösen Pluralismus als „Signatur unserer Lebenswelt“ und den von ihm so genannten „dialogischen Imperativ“, also die Aufforderung zum interkulturellen und interreligiösen Gespräch, die im „göttlichen Indikativ der Liebe Gottes zu unseren Nächsten und zu uns“ ihren tiefsten Grund habe.
1955 in Frankfurt am Main geboren, studierte Christoph Schwöbel evangelische Theologie und Philosophie an der Kirchlichen Hochschule Bethel und der Philipps-Universität Marburg. Dort wurde er 1978 mit seiner Dissertation über Martin Rade, einen der Hauptvertreter des Kulturprotestantismus, promoviert und begann als Assistent von Carl Heinz Ratschow seine universitäre Laufbahn. Es folgte eine 7-jährige Tätigkeit als Dozent für Systematische Theologie am King`s College der Universität London: eine Zeit, in der er seine Kontakte im englischsprachigen Raum aufbaute und festigte. Dies prädestinierte ihn auch zum qualifizierten ökumenischen Gesprächspartner sowohl im Raum der United Reformed Church in England and Wales als auch – in seiner Funktion als langjähriger Co-Vorsitzender der Theologischen Konferenz der sog. Meissen-Kommission – als Dialogpartner zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Church of England. 1990 habilitierte er sich – wiederum in Marburg – mit Studien über das „Handeln Gottes“ und kehrte 1993 nach Deutschland zurück: zunächst als Ordinarius für Systematische Theologie in Kiel, dann in Heidelberg und schließlich, von 2004 bis zu seiner Emeritierung 2018, in Tübingen, wo er als Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie dem heute 86-jährigen Theologen Eberhard Jüngel nachfolgte. Im September 2018 übernahm er dann den 1643 eingerichteten Chair of Divinity, den Lehrstuhl für Theologie, an der traditionsreichen Universität St. Andrews in Schottland.
Im Zentrum seines weit gespannten Oeuvres steht eine Theologie, die für den Dialog der Kulturen und Religionen eintritt sowie auf gegenseitiges Verstehen setzt – und als Folge daraus: auf Gastfreundschaft, Kooperation und wechselseitiges Vertrauen. Diese Haltungen sind für ihn Früchte des festen Willens, „dass die Anderen, also die anders Denkenden und anders Glaubenden, für immer Teil meiner Zukunft sind“. Dies, so Schwöbel, sei das „Geheimnis einer pluralistischen Gesellschaft“. Für das respektvolle Miteinander der Verschiedenen in ihr sei nun aber nicht die Einebnung der eigenen religiösen Überlieferung, sondern gerade das vertiefte Eintauchen in sie die entscheidende Ressource – für ihn als Christen also die Rückbindung an das Wesen des christlichen Glaubens. Dies unterscheide einen „Pluralismus aus Glauben“ von einem „Pluralismus der Beliebigkeit“. Und wir fragen Christoph Schwöbel: Inwiefern?
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erfahrung, dass der christliche Glaube keine menschliche Leistung, auch nicht menschlicher Besitz, sondern eine von Gott unverfügbar gewährte Gabe ist. Glaube wird geschenkt, nicht gemacht! Er „gründet in der kontingent geschenkten Gewissheit über die Wahrheit der Christusbotschaft“ und zielt auf die freie Zustimmung des Einzelnen. Dieses rein passive Zustandekommen der Glaubensgewissheit gilt aber nicht nur für Christinnen und Christen, sondern vielmehr „für alle Menschen und für alle Gewissheiten“. Schwöbel zieht daraus den Schluss: „Aus Einsicht in die Konstitution des eigenen Glaubens müssen Christen annehmen, dass auch die Glaubensgewissheit anderer Menschen in derselben Weise für sie konstituiert ist.“ Gerade weil wir zu dem stehen, was uns wichtig ist, wir unsere Glaubensgewissheit, unsere Gewissensfreiheit, also auch von außen geachtet wissen wollen, deshalb sollten wir ebenso achtungsvoll umgehen mit dem, was Anderen wichtig und wesentlich ist. „Toleranz als aktive Toleranz des Erduldens eines anderen Wahrheitsanspruches …wird“, so Schwöbel, „nur dort möglich, wo sie in der eigenen Wahrheitsgewissheit begründet ist“. Deshalb betont er im Blick auf die Wurzeln der Toleranz geradezu emphatisch: „Je religiöser, desto toleranter!“ Denn die Verwurzelung im christlichen Glauben und die Befähigung zur Toleranz anderen Religionen und Weltanschauungen gegenüber, sie bedingen einander. Eben die Situation des radikalen Pluralismus macht Schwöbel zufolge „die Ausbildung von klaren Identitäten erforderlich, damit die unterschiedlichen Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen miteinander kommunizieren können.“ Ohne die Überzeugung vom Wahrheitsanspruch und Verpflichtungscharakter der eigenen Religion sei jeder Glaube und jeder Dialog mit Andersglaubenden und -denkenden letztlich unernsthaft!
Wesentlich ist ihm dabei eine fundamentale Unterscheidung: nämlich die zwischen den relativen Formen der Religionspraxis, auch zwischen dem menschlichen Glaubenszeugnis einerseits und der „absolute(n) Autorität der gewissmachenden Offenbarung Gottes“ andererseits, welche wir niemals besitzen, sondern die uns immer selbstkritisches Gegenüber bleibt. Angesichts dieser Unterscheidung kann man Unterschiede zwischen den Religionen und Weltanschauungen klar benennen, sich des Andersseins des Anderen bewusst werden, ohne sich daraufhin dem Anderen symbiotisch anpassen zu müssen oder sich von ihm durch Höherbewertung des Eigenen und Herabsetzung des Fremden abzugrenzen. Im Blick auf Christen und Muslime kann Schwöbel deshalb schlussfolgern: „Sie sind dann keine Rivalen, die sich voreinander fürchten oder einander bekämpfen, und müssen Unterschiede weder zu einem Kontrast ausbauen noch in einem unrealistischen ‚Einheitsbrei‘ verrühren. Für beide Religionen ist entscheidend, dass ihre Identität nicht in der Abgrenzung von anderen Religionen begründet liegt, sondern ihren Grund in der Gottesbeziehung hat.“ Entsprechend hängt die Toleranz anderen Glaubensgewissheiten gegenüber auch nicht davon ab, ob sie ihrerseits von Anderen geübt wird. Sie ist unbedingte Gabe. So machen wir zum Beispiel unser Ja zur freien Religionsausübung von Muslimen in unserem Land auch nicht von der Frage abhängig, ob islamisch dominierte Länder den dort lebenden Christen Religionsfreiheit gewähren. Zugleich tritt Schwöbel aber – aufgrund der in der Gottebenbildlichkeit liegenden gleichen Würde aller Menschen – für die Religions- und Gewissensfreiheit als universales Menschenrecht ein und sieht es darum als unsere Pflicht an, dieses überall und zu jeder Zeit zu verteidigen. Diesem Anspruch wollte er in der Begegnung mit anderen auch selbst gerecht werden. Allen, die ihn kannten, spricht sein Kollege Eilert Herms aus dem Herzen, wenn er ihn so charakterisiert: „Schwöbel ist ein Genie des offenen Zuhörens und des verständnisvollen Antwortens. Bewundernswert ist … insbesondere seine Kunst, auch das kritische Wort ein freundliches Wort sein zu lassen.“ So haben wir mit Christoph Schwöbel einen Menschen verloren, dem die theologische Reflexion, meist hat er sie in Form von Thesen entfaltet, nie Selbstzweck gewesen ist, sondern Auftrag, Zeugnis zu geben von dem, wovon der Glaube nicht lassen kann.
CS