Dieses Mal ist alles anders – im Haus und in der Familie von Katharina und Martin Luther. Am 17. Dezember 1534 kommt Margarethe, ihre jüngste Tochter, zur Welt. Der Vater sitzt an ihrer Wiege, sieht das kleine Bündel Mensch – und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein neugeborenes Kind zu betrachten, ist: als würde man den Schöpfer auf frischer Tat ertappen.
Und Martin Luther fängt an, an der Wiege seiner jüngsten Tochter eins der schönsten Weihnachtslieder zu dichten: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. – Die Melodie ist ein Wiegenlied.
Es beginnt ganz oben, in der Höhe, mit einem klaren, himmlischen C – und dann führt die Melodie – wie in Wellen – bis hinunter auf die Erde, bis wir beim tiefen C angekommen sind.
Wer – wie wir – in dieses Lied einstimmt, ist schon mitten drin in dem, was hier erzählt wird. Indem wir singen, werden wir Teil der Geschichte – und sagen mit den Worten des Engels die weihnachtliche Botschaft an:
„Ich – bring euch gute, neue Mär!“
Die „Mär“, wie es in Luthers Sprache heißt, ist kein Märchen aus fernen, uralten Zeiten; vielmehr eine gute Botschaft, die uns aktuell, hier, heute Abend, erreichen und berühren will. Es ist eine gute Nachricht – gerade für Menschen, die wissen, wie unwägbar und risikoreich das Leben ist.
Seit nunmehr fast zwei Jahren erleben wir unsere Verwundbarkeit, unsere Verletzlichkeit, ganz unmittelbar: Ein winziges Virus hält die gesamte Welt in seinem Bann – und hat unser Leben, bis in den Alltag hinein, grundlegend verändert. Uns, die wir zuweilen verzagt sind und denen Lebensangst nicht fremd ist, wird zugerufen:
„Euch ist ein Kindlein heut‘ geborn
Von einer Jungfrau auserkorn,
Ein Kindelein, so zart und fein,
Das soll eu’r Freud und Wonne sein.
Es ist der Herr Christ, unser Gott,
Der will euch führn aus aller Not,
Er will eu’r Heiland selber sein,
Von allen Sünden machen rein.
So merket nun das Zeichen recht:
Die Krippe, Windelein so schlecht,
Da findet ihr das Kind gelegt,
Das alle Welt erhält und trägt.“
Die Geburt des göttlichen Kindes, das uns den Himmel öffnet, ist die frohe Kunde:
Gott selbst kommt zur Welt, macht sich uns Menschen gleich, um gerade in Not, gerade in der Tiefe, mit uns und bei uns zu sein.
Was für ein Spannungsbogen! Gott kommt – vom Himmel hoch – herab, zu uns, wo wir das Leben in seiner Bedürftigkeit erfahren, ungesichert und angewiesen: in der Familie, im Krankenhaus, im Altenheim – in der Mitte eines Arbeitstages oder am Rande einer ruhelosen Nacht.
Aus diesen Situationen heraus erwächst neues Leben, gewinnt es seine Kraft und seinen Sinn. In der Geburt – und nicht im Tod – liegt das Geheimnis des Lebens: das ist die weihnachtliche Botschaft. Diesen Blick- und Machtwechsel feiert das Christfest.
Ob sie belastbar ist mit Lebenserfahrung, diese Botschaft? – Wo immer ein Kind zur Welt kommt, da verändert sich Leben. Bei jeder Geburt erfahren Menschen – und v.a. die Gebärenden selbst –, was es heißt: in Angst zu sein, Schmerzen zu haben, um Leib und Leben zu fürchten. Und vor jeder Geburt erfahren Menschen, was es heißt: in Erwartung zu leben; weil niemand sich vorstellen kann, wie das neue Leben sein wird. Und nach der geglückten Geburt erleben Menschen, was es heißt: dankbar zu sein und staunen zu können.
Das Kind, das uns heute geboren wird, nennt Martin Luther „Heiland“ – und er nimmt damit einen alten, messianischen Titel auf. In ihm steckt das Wort „heilen“. Die gute Botschaft also besagt, dass die Begegnung mit dem göttlichen Kind heilend und heilsam ist; dass wir auch dann, wenn wir einsam sind – oder uns ohnmächtig fühlen, gehalten und getragen sind von der liebenden Hand des Gottes, der sich uns in diesem Kind zeigt, sich uns offenbart – und uns in ihm ganz nahe ist.
„Des lasst uns alle fröhlich sein
Und mit den Hirten gehn hinein,
Zu sehn, was Gott uns hat beschert,
Mit seinem lieben Sohn verehrt.
Ach, Herr, du Schöpfer aller Ding,
Wie bist du worden so gering,
Dass du da liegst auf dürrem Gras,
Davon ein Rind und Esel aß!
Das hat also gefallen dir,
Die Wahrheit anzuzeigen mir:
Wie aller Welt Macht, Ehr und Gut
Vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.
Ach, mein herzliebes Jesulein,
Mach dir ein rein, sanft Bettelein,
Zu ruhn in meines Herzens Schrein,
Dass ich nimmer vergesse dein.“
Bislang haben wir uns die Worte des Engels geliehen, uns die weihnachtliche Botschaft zugesagt. Jetzt wechseln wir im Lied auf die Seite derer, die die Botschaft hören. Mit den Hirten gehen wir in den Stall hinein und sehen: Es geht um viel! Es geht um einen Gott, der sich hingibt, der sich uns schenkt –und darum, dass alle menschliche Macht im Angesicht des göttlichen Kindes in ihre Grenzen gewiesen wird.
Nichts gilt – und nichts hilft: keine Werbung in eigener Sache, keine noch so berechtigte Anerkennung von Anderen, nichts, was wir uns selbst verdient haben.
Hinter der Maske von „Macht“ und „Ehre“ und „Gut“ sind wir nackt und bloß. – Heil – liegt vielmehr darin, dass unser Herz, unsere Seele, zur Wiege, zum Ort des Heilands wird. Hier, also in uns, geschieht die Geburt des göttlichen Kindes! Nicht draußen im Stall, sondern inwendig, im eigenen Herzen. So haben wir Teil an dem Wunder, das im Kleinen, im Unscheinbaren und Stillen, geschieht, und an dem Frieden, der höher ist, als alle menschliche Vernunft.
Ich wünsche Ihnen: dass Sie in den kommenden Tagen die Erfahrung machen, dass der Himmel sich für Sie öffnet:
Vielleicht staunen Sie an einem grauen Wintertag über die Rose, die im Garten noch blüht.
Vielleicht eröffnen sich Ihnen im Beruf unerwartete Möglichkeiten, die gerade für Sie die richtigen sind.
Vielleicht finden Sie einen neuen Zugang zu einem Menschen, der für Sie schwierig ist – oder die Klänge weihnachtlicher Musik berühren Sie plötzlich tief im Herzen –und Sie entdecken so eine der kleinen oder großen Freuden, die mit dem Kind in der Krippe in die Welt gekommen sind.
Lassen Sie sich von dieser Freude erfüllen – und sie möge Ihnen auch nach Weihnachten nicht verlorengehen, sondern Sie im Unterwegssein durch helle und dunkle Zeiten begleiten, stärken und tragen.
CS