
Kopie des Christus von Thorvaldsen auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin
Die Frauenkirche im Zentrum Kopenhagen war 1807 durch Feuer zerstört worden. Zehn Jahre danach wurde der Wiederaufbau in Angriff genommen, der nach weiteren zwölf Jahren Bauzeit im Jahr 1829 eingeweiht werden konnte. Christian Frederik Hansen bekam den Auftrag eine modernes Kirchengebäude zu errichten. Die Frauenkirche ist heute ein zentrales Beispiel des Klassizismus. Zur Ausstattung des Kirchenraumes bemühte man einen anderen berühmten Dänen: Bertel Thorvaldsen, der den Auftrag zu Apostel-Figuren und einer Christus-Statue bekam. Der segnende Christus wurde schließlich in der Kirchenapsis aufgestellt und zieht seitdem die Blicke der Kirchenbesucher*innen auf sich.
Auf dem Sockel der über drei Meter großen Statue steht das Bibelwort: „Kommet her zu mir alle“ (Mt 21,28). Auch diese Skulptur orientiert sich mehr an antiken Kunstwerken als an den traditionellen Jesus-Darstellungen. Dieser Christus geht auf die Menschen zu. Mit dem rechten Fuß hat er einen Schritt nach vorne gemacht. Die Arme sind weit ausgestreckt, um das Gegenüber zu umarmen. Er nimmt die Menschen, die an den Altar der Frauenkirche in Kopenhagen treten, in seine Gemeinschaft hinein. Schon in der Zeit der Aufstellung wurde diese Geste als stark empfunden. Keinem Weltenherrscher oder Gemarterten am Kreuz begegnet man hier, sondern dem sanften, liebenden und zugewandten Christus.
Ebenso stelle ich mir den Christus vor, der im Johannes-Evangelium sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Joh 6,37) Dieses Wort ist die Losung für das Jahr 2022. Der Kontext dieses Wortes steht im Zusammenhang mit der Speisung der 5000 und der Aussage Jesu, das Brot des Lebens zu sein. Er sorgt für beides, wenn Menschen zu ihm kommen. Der reale Hunger der Menge wird gestillt und zugleich ist klar, dass es noch mehr gibt, was der Mensch im Leben braucht. Jede*r kann zu ihm kommen und keine*r wird von ihm abgewiesen. Ein Christus, der in diesen aufgewühlten Zeiten, mich in die Arme nimmt und keinen Schutzabstand halten muss. Sondern mich mir seiner Liebe umfängt.
Dieser gute, liebende Jesus ist aber auch eine Herausforderung. Sicherlich hätte er es verstanden, wenn, um andere Menschen zu schützen, Abstandgebote und andere Sicherheitsvorschriften notwendig sind. Nicht verstanden hätte er ohne Zweifel, wenn Menschen abwiesen werden und in den Wäldern Weißrusslands ausharren oder die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen müssen. Vielleicht ist naiv zu sagen, bei der Speisung hat es auch funktioniert und alle sind satt geworden. Und doch geht es hier um eine Frage der Menschlichkeit. In der Geste der Zuwendung, die bei Jesus ganz menschlich mit offenen Armen daherkommt, scheint gerade seine Göttlichkeit durch.
RJ