
Professor Karl Pinggéra sprach zum Auftakt der Winterakademie im Gemeindezentrum in Auerbach über „Politik und Religion im Nahen Osten“
Foto: Zelinger
Der Nahe Osten ist die Wiege von Judentum, Christentum und Islam. Über Jahrtausende sind komplexe religiöse Kulturen entstanden. Doch in der jüngeren Gegenwart haben Kriege und Konflikte dazu beigetragen, dass sich diese gewachsenen Kulturen verzweigen. Auch die christlichen Gemeinschaften sind im orientalisch-arabischen Raum längst auf dem Rückzug, ihre Kirchen im Rest der Welt bisweilen stärker als in der alten Heimat.
Karl Pinggéra spricht vom Erlöschen christlicher Strukturen, wie sie beispielsweise im Irak seit dem 2. Jahrhundert präsent waren. „Eine bedrückende, aber keineswegs unrealistische Vorstellung“, so der Professor für Kirchengeschichte an der Universität Marburg. Seine Standortbestimmung der orientalischen Kirchen eröffnete am Mittwoch die diesjährige Auerbacher Winterakademie, die aufgrund der Pandemie zunächst verschoben werden musste. Gastgeber sind die Evangelische Kirchengemeinde Auerbach und der Evangelische Bund, der mit dem Konfessionskundlichen Institut in Bensheim die größte wissenschaftliche Forschungsstelle für Ökumene im deutschsprachigen Raum betreibt.
Stark zersplitterte Kirchenwelt
Pfarrer Karl Michael Engelbrecht und Walter Fleischmann-Bisten, bis 2007 Geschäftsführer des Konfessionskundlichen Instituts, begrüßten ein gutes Dutzend Gäste im Gemeindezentrum, wo der Referent eine faktische wie persönliche und insgesamt eher pessimistische Einschätzung der gegenwärtigen Situation erläuterte. „Wir sehen eine stark zersplitterte Kirchenwelt von großer konfessioneller Vielfalt in großer Gefahr“, so Karl Pinggéra in Auerbach.
Er erläuterte zunächst das orientalische Christentum als differenzierten Kosmos mit klaren Schnittmengen. In konfessioneller Hinsicht müsse man zwischen den Kirchen der miaphysitischen Kirchenfamilie, der Apostolischen Kirche des Ostens und den mit Rom vereinten Kirchen unterscheiden.
Die jeweilige Kirchenmitgliedschaft bedeute auch die Zugehörigkeit zu einer eigenen Rechtsgemeinschaft. Damit einher gingen aber auch unterschiedliche ethnische Selbstdefinitionen, die trotz des verbindenden Ur-Glaubens immer wieder zu Spannungen und Konflikten unter diesen Gemeinschaften führen würden. „Staatsbürgerschaft wird dort in erster Linie durch die Religionszugehörigkeit definiert.“
Der Kirchenhistoriker spricht von nicht weniger als einem Exodus der Christen im orientalischen Raum. Er verweist auf die Kirchenzerstörungen und die Verfolgung koptischer Christen in Syrien und die Situation im Irak, wo früher mehr als eine halbe Million Christen lebten. Seit dem Krieg 2003 und den Eroberungen durch den IS in jüngster Zeit haben wahrscheinlich mehr als zwei Drittel von ihnen das Land bereits verlassen.
Forciert würde diese innere Dynamik durch die Tatsache, dass mehr Christen auswandern als Muslime, was zu einer enormen Verschiebung der religiösen Vielfalt und Balance führe. Christen im Irak seien fremd im eigenen Land und durch ihren Glauben von der Mehrheitsgesellschaft getrennt, was als unmittelbare Folge auch die ethnische und kulturelle Identität dieser Menschen schwäche, so der Kirchenhistoriker und Orient-Kenner, der darauf hinweist, dass die Geschichte des Christentums in Mesopotamien bis in die ältesten Zeiten der Kirche zurückreicht.
Gegenwärtig sei diese Kultur nicht nur teilweise zerstört, sondern elementar bedroht, so Pinggéra, der auch die umstrittene Frage ansprach, ob westliche Hilfsorganisationen und die Politik eingreifen sollten oder nicht. Gut gemeinte Hilfsprogramme könnten letztlich zur weiteren Erosion des orientalischen Christentums beitragen, wenn mehr Menschen gehen als bleiben. Der Westen habe bereits mehrmals danebengelegen, als er zu wissen meinte, was das Richtige für diese Region sei. Die Lage komme einer modernen Tragödie gleich.
Frankreich als Schutzmacht?
Eines der jüngsten Beispiele ereignete sich vor wenigen Wochen: Demonstrativ hatte der französische Präsident Macron im Irak der christlichen Minderheit seine Unterstützung zugesagt. Da kaum ein Land so auf die Trennung von Kirche und Staat bedacht sei wie Frankreich, sei es durchaus bemerkenswert, dass Frankreich nun an seine historische Rolle als laizistische Schutzmacht der Orientchristen anknüpfe. Man dürfe aber keine Hoffnungen wecken, die man nicht erfüllen kann, so Karl Pinggéra, der 1967 in München geboren wurde und bis 1994 Evangelische Theologie in Erlangen, München und Wien studiert hat. 1997 folgte die Ordination zum Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. 2001 promovierte er am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg, wo er bis heute als Professor lehrt und forscht.
Pinggéra ist unter anderem Mitherausgeber von „Una Sancta: Zeitschrift für ökumenische Begegnung“ und Mitglied der Kommission für den bilateralen theologischen Dialog zwischen der Evangelischen Kirche Deutschland und den Orientalischen Orthodoxen Kirchen. Der Bezug zu Bensheim entstand während seiner Arbeit im Wissenschaftlichen Beirat des Konfessionskundlichen Instituts.
In Auerbach lenkte er immer wieder den Blick auf die zentrale Bedeutung der Diaspora für die orientalischen Kirchen, die sich seit Jahren einer kirchenhistorisch einmaligen Herausforderung gegenüber sehen: den Abfluss der Christen aus ihren ureigenen Kernländern. Hier zeige sich auch ein wesentlicher Unterschied zu den Auslandsgemeinden der russisch-orthodoxen Kirchen, die von den Klöstern und Akademien von Russland aus unterstützt würden.
Die orientalischen Auslandsgemeinden werden – im Gegensatz dazu – aber ihren Ursprungskirchen im Nahen Osten insofern helfen müssen, als dass sie den Reichtum an spirituellen, liturgischen und theologischen Traditionen abseits der alten Heimat erhalten, wo dies aufgrund ausblutender Gemeinschaften kaum noch möglich sei.
Mit freundlicher Unterstützung des Bergsträßer Anzeigers und seinem freien Autor Thomas Tritsch