Am 9. September dieses Jahres ist Friedrich Schorlemmer im Alter von 80 Jahren in Berlin-Spandau gestorben. Dort hatte er sich vor zwei Jahren in ein Pflegeheim zurückgezogen, nachdem bei ihm eine Demenz- und Parkinsonerkrankung diagnostiziert wurde. Diese machte er öffentlich, bestellte in Wittenberg, der Stadt, in der er die längste Zeit seines Lebens verbrachte, sein Haus und machte sich auf den Weg.
Jetzt in der Stadt Gottes angekommen, möge er in dem Frieden ruhen, den er ein Leben lang konsequent, kämpferisch und zugleich um Einverständnis werbend weitergesagt hat: den Frieden, der all unser Verstehen übersteigt.
Viele Male habe ich ihm zugehört: in meiner Pfälzischen Landeskirche, wo er sich oft als Gast aufhielt, ebenso in der Lutherstadt Wittenberg.
Er war ein mutiger Mann: „Machen wir uns nichts vor und lassen wir uns nichts vormachen. …Halten wir stand. …Flüchten wir nicht, vor nichts und niemand. Hier ist der Ort, hier ist die Zeit zu bestehen“. Unvergessene Worte. Von ihm gesprochen auf der Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung am 13. Februar 1988 in Dresden. Und seine damalige Meditation, überschrieben mit „Über den Mut, einander die unzumutbaren Wahrheiten zuzumuten“, endete mit einem Gebet: Sehend, „wie wir an Abgrenzung und Ausgrenzung krank werden…; wie mächtig die Aufrüstungsdynamik geblieben ist; wie uns Geld wichtiger wird, als Natur und Gesundheit… Gott, um alles in der Welt, lass uns nicht los – um alles in der Welt.“
Wie aktuell sind diese Sätze heute – angesichts von Krieg und Terror, unverantwortlichem Verbrauch unserer Lebens- und Überlebensressourcen, der Kluft zwischen Arm und Reich, dem Erstarken politischer Kräfte, die die Demokratie in Frage stellen!
„Klar sehen und doch hoffen“, dieser Titel seiner Biografie fasst zusammen, was sein Leben ausmachte: die Augen offen halten, hellwach; den Finger in die Wunde legen, wo Leid und Elend, Ungerechtigkeit und Hass, aber auch Opportunismus, Apathie und Lüge unübersehbar geworden sind; und diese eine Welt doch sehen mit den Augen Jesu und daraus Hoffnung schöpfen – auch gegen den Augenschein –, um daraufhin den aufrechten Gang zu wagen.
Seit den 1970er-Jahren setzte Schorlemmer sich offen und öffentlich ein für Frieden, Menschenrechte und die Bewahrung der Schöpfung und fand Mitstreiterinnen und -streiter im Raum der evangelischen Kirche. Er, der schon als Schüler kein blaues FDJ-Hemd trug und den von da an die Staatssicherheit der DDR nie mehr aus den Augen verlor. Er avancierte zum Staatsfeind im SED-Regime. Klein kriegen ließ er sich dadurch nicht, im Gegenteil: Immer und immer wieder las er die Briefe und Aufzeichnungen Dietrich Bonhoeffers aus der Haft – „Widerstand und Ergebung“ – und zog daraus Kraft und Lebensmut.
So wurde er schließlich zum Vordenker und Wortführer der Friedlichen Revolution 1989, an deren 35. Jahrestag wir in wenigen Wochen erinnern werden.
Seit 1980 war es die Verheißung aus dem Buch des Propheten Micha (4, 3), die zum Motto der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR wurde: „Schwerter zu Pflugscharen“. Konkrete Gestalt bekam dieses Wort, als auf dem Wittenberger Kirchentag 1983, anlässlich des 500. Geburtstags Martin Luthers, ein Schmied, inspiriert durch Schorlemmer, aus einem Schwert ein Pflugschar formte. Eine Symbolhandlung, die Geschichte schrieb.
Von daher versteht sich auch, dass 1989 „Keine Gewalt!“ zum Schlüsselbegriff der Friedlichen Revolution wurde. Entsprechend beendete Friedrich Schorlemmer seine denkwürdige Rede am 4. November 1989 vor Tausenden von Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz mit folgendem Lutherzitat: „Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet stille.“
Eben dies stand zu jeder Zeit auch über seinem Wirken: Mit heißem Herzen verstand er es, zu streiten; jedoch stets ohne Gewalt, allein mit dem und durch das Wort. Damit verschrieb er sich dem reformatorischen Leitspruch des zweiten großen Wittenbergers, Philipp Melanchthon: „sine vi, sed verbo“. Und genau so, mahnend, tröstend und aufrichtend, wehrte er sich nach 1989 gegen die Enteignung und Entwertung der eigenen wie der Biografie derer, die mit ihm in Mittel- und Ostdeutschland gelebt haben und deren Erfahrungen es einzubringen gelte in die neue Bundesrepublik.
Gleichzeitig baute er Brücken. V.a. Brücken der Entfeindung zu denen, die ihn bisher drangsaliert hatten. Leitend war für ihn auch hier die reformatorische Theologie, nämlich die Unterscheidung zwischen Person und Werk. So sehr er die Untaten im real existierenden Sozialismus an den Pranger stellte, so wenig identifizierte er die Täter mit dem, was sie taten. Jedem und jeder von ihnen gestand er die Chance des Neuanfangs zu.
Bezeichnend dafür ist, was er in einem Interview nach dem Zusammenbruch der DDR sagte: dass er den obdachlos gewordenen Erich Honecker, wenn er vor seiner Tür stände, in seiner Wohnung aufnehmen würde!
Mit Friedrich Schorlemmer verlieren wir alle und verliert auch der Evangelische Bund, dessen Mitglied er war, einen unerschrockenen Zeugen des Evangeliums. In seiner klaren Haltung in Wort und Tat war er, paulinisch gesprochen, ein Botschafter an Christi statt. Er bleibe uns Vorbild im Glauben – gerade heute, in herausfordernder und unübersichtlicher Zeit.
CS/TN

