Jürgen Moltmann @epd|Jens Schulze

Dass er einmal zu den weltweit bekanntesten deutschen Theologen zählen würde, war Jürgen Moltmann, der am 8. April 1926 in Hamburg geboren wurde und am 3. Juni 2024 im Alter von 98 Jahren in Tübingen starb, nicht in die Wiege gelegt, ganz im Gegenteil!
In einer säkularen Hamburger Lehrerfamilie aufgewachsen, lagen ihm Religion und Glauben fern. Max Planck und Albert Einstein waren die Helden seiner Jugend. Entsprechend wollte er Physik und Mathematik studieren. Die Anfechtungen indes, in die er infolge des Zweiten Weltkriegs geriet, sollten sein Leben jäh verändern. 1943 wurde er mit 16 Jahren als Flakhelfer eingezogen und erlebte im Juli desselben Jahres die Vernichtung Hamburgs auf einer Flakbatterie in der Außenalster. Als 40.000 Menschen Opfer der englischen Royal Air Force wurden, schlug auch eine Bombe in seiner unmittelbaren Nähe ein. Sie tötete seinen Freund neben ihm, er aber blieb – wie durch ein Wunder – verschont. „In dieser Nacht“, so Jürgen Moltmann, „habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien: ‚Mein Gott, wo bist du?‘ war meine Frage und: ‚Wofür bin ich am Leben und nicht auch tot wie die anderen?‘ Während einer dreijährigen Kriegsgefangenschaft suchte ich Antwort, zuerst in den Klagepsalmen des Alten Testaments, dann im Markusevangelium. Als ich an den Todesschrei Jesu kam, wusste ich: Da ist dein göttlicher Bruder und Erlöser, der dich in deiner Gottverlassenheit versteht. Sodass der sterbende, nach Gott schreiende Jesus mir sehr nahe kam. Sodass ich durch diese Gegenwart Jesu eigentlich zu Gott gekommen bin.“

Moltmann beginnt daraufhin noch in der Gefangenschaft mit dem Studium der evangelischen Theologie, das er 1948 in Göttingen fortsetzt. Dort lernt er auch seine spätere Frau Elisabeth kennen. Sie motiviert ihn, bei Otto Weber, dem Professor für Reformierte Theologie, bei dem sie gerade ihre Dissertation schreibt, zu promovieren. Nach Abschluss des Doktoratsstudiums von beiden heiraten sie, und er übernimmt eine Gemeindepfarrstelle in Bremen-Wasserhorst, kombiniert mit dem Studierendenpfarramt in Bremen. Inzwischen habilitiert, nimmt Moltmann 1958 einen Ruf als Professor für Dogmengeschichte und Dogmatik an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal an. 1963 wechselt er nach Bonn und besetzt dort den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik. Von 1967 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 lehrt er schließlich an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Elisabeth Moltmann-Wendel entwickelt in dieser Zeit gemeinsam mit anderen die so genannte Feministische Theologie im deutschsprachigen Raum. Sie hat in der ihr eigenen Weise, Theologie zu treiben, auch das Denken ihres Mannes nachhaltig beeinflusst.

Dass in allen Veränderungen die existenziellen Fragen des jungen Gottsuchers prägend geblieben sind, aber auch der Halt, den er in dem mitleidenden Gott gefunden, und die Hoffnung, die er daraus geschöpft hat, will ich im Folgenden an Moltmanns Theologie der Hoffnung und – mit ihr korrespondierend – an seiner trinitarischen Kreuzestheologie zeigen: Das Buch, mit dem Jürgen Moltmann Theologiegeschichte geschrieben hat, ist seine 1964 erschienene „Theologie der Hoffnung“. Inspiriert durch die persönliche Begegnung mit dem Philosophen Ernst Bloch, liest er dessen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ – und ist davon so fasziniert, dass er beschließt, „eine Parallelhandlung in der Theologie“ zu entwerfen. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen über die Hoffnung stellt er fest: „Es gibt … nur ein wirkliches Problem der christlichen Theologie, das ihr von ihrem Gegenstand her gestellt ist und das durch sie der Menschheit und dem menschlichen Dasein gestellt wird: das Problem der Zukunft.“ Denn der christliche Glaube, so Moltmann, „lebt von der Auferweckung des gekreuzigten Christus und streckt sich aus nach den Verheißungen der universalen Zukunft Christi“. „Aussicht und Ausrichtung nach vorne“, „Aufbruch und Wandlung der Gegenwart“, so benennt er die Perspektiven des geradezu „zukunftssüchtigen“ christlichen Glaubens. Die auf die Neuschöpfung aller Dinge durch den Gott der Auferstehung ausgerichtete Hoffnung ist dann aber auch selber aufgerufen zur Transformation der Wirklichkeit und wird so zur Quelle für die schöpferische Phantasie der Liebe im Dienst der „Erneuerung der Welt“. Erkennbar ist sie an der „Verwirklichung eschatologischer Rechtshoffnung“, der „Humanisierung des Menschen“, der „Sozialisierung der Menschheit“ und am „Frieden der ganzen Schöpfung“: Als „Exodusgemeinde“ sind wir, ist die Kirche Jesu Christi, daher schon jetzt sowohl Zeichen des Widerstands gegen sämtliche restaurativen Tendenzen als auch Inbegriff schöpferischer Neugestaltung, die dem Kommenden schon jetzt Form verleiht. Darin erweist sie sich als Kirche in der „Kraft des Geistes“.

Unter dem Stichwort „Politische Theologie“ wird Moltmann deshalb seine „Theologie der Hoffnung“ konsequent weiterentwickeln, immer deutlicher geprägt von der Reich-Gottes-Erwartung Christoph Blumhardts sowie dessen Ruf: „Jesus ist Sieger!“ – und der darin grundgelegten Hinwendung zu den Armen und Entrechteten. Gerade diese Pointe seiner Rede von Gott zeigt, dass es Moltmann nie um einen billigen Optimismus gegangen ist; vielmehr um eine „Hoffnung im Modus der Erinnerung“ an die Leidensgeschichte Jesu. „Ohne die Wahrnehmung des Schmerzes des Negativen kann“, so sagt er, „christliche Hoffnung nicht realistisch werden und befreiend wirken.“ Deshalb will seine „Kreuzestheologie …die Hoffnungstheologie konkreter machen und ihre mobilisierenden Visionen mit den notwendigen Widerstandshaltungen verbinden.“

Moltmanns Kreuzestheologie nun trägt den provokativen Titel: „Der gekreuzigte Gott“ (1972), in der er die Frage nach der Heilsbedeutung des Gekreuzigten für uns umkehrt. Seine Frage lautet jetzt nämlich: „Was bedeutet das Kreuz Christi für Gott? Schweigt ein apathischer Gott im Himmel ungerührt zum Leiden und Tod seines Kindes auf Golgatha, oder erleidet Gott selbst diese Schmerzen und diesen Tod?“ Im Zuge einer Antwort konzipiert er seine Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, die vom Kreuz Jesu ausgeht. Denn sein gottverlassenes Sterben offenbart eine tiefe Willensgemeinschaft zwischen dem gesandten und in den Tod gegebenen Sohn einerseits und dem sendenden Vater andererseits. Der Sohn erleidet das Sterben, und der Vater erleidet den Tod des Sohnes im unendlichen Schmerz der Liebe. „Was aus diesem Geschehen der Hingabe zwischen Vater und Sohn hervorgeht, ist“, so Moltmann, „der Geist, der Gottlose rechtfertigt, Verlassene mit Liebe erfüllt und selbst die Toten lebendig machen wird.“ Es ist der „Tod“ gefangen und überwunden „in Gott“ – „verschlungen … in den Sieg des Lebens“–, der die „Teufelskreise des Todes“ unterbricht und der „Befreiung des Menschen“ dient, die sich im ewigen Leben vollendet.

Darum gilt im Blick auf unsere Todesstunde, so Moltmann in einem Interview zum Osterfest 2020: „Im Ende der Anfang!“ Und er, der reformierte Theologe, zitiert in diesem Zusammenhang Martin Luther, der sagt: „Sobald die Augen sich schließen, wirst du auferweckt werden. Tausend Jahre werden sein gleich als du ein halbes Stündlein geschlafen hast. Gleich wie wir nachts … nicht wissen, wie lange wir geschlafen haben, so sind noch vielmehr im Tod tausend Jahre schnell weg. Ehe sich einer umsieht, ist er schon ein schöner Engel.“ Dabei versteht Moltmann dieses Wort weniger als eine Bereitung zum Sterben, eine ars moriendi, sondern vielmehr als eine „Bereitung zur Auferstehung in die Fülle des Lebens, die wir das ewige Leben nennen, eine ars resurgendi also“. Sein Nachdenken kreist mithin seit der „Theologie der Hoffnung“ um das Zentrale des christlichen Glaubens: die „Bedeutung der Auferstehung Christi für unser Leben hier und unsere Hoffnung auf das ewige Leben dort“. So bekannte er vor drei Jahren auf der Feier seines 95. Geburtstages: „Wir leben in die Auferstehung hinein, nicht in den Tod.“ Möge sich jetzt an ihm bewahrheiten, was er in seinem irdischen Leben gehofft und unzähligen Menschen vermittelt hat.

CS/TN

 

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